Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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Fragestellungen besonders einschlägig, die sich für Spielräume von Kontingenzpraktiken interessieren, die auch ohne begriffliche Zuspitzungen auskommen.

      5.3 (Wozu) braucht die Mediävistik Kulturbegriffe? Eine Stichprobe

      Ein erster Schritt zur Historisierung besteht darin zu fragen, welche Kulturbegriffe implizit oder explizit ins Spiel kommen, wenn Streit und Wettkampf untersucht werden. Die mediävistische Literaturwissenschaft verfügt über ein breites Repertoire von Kulturkonzepten, das die Pluralisierung der Kulturwissenschaften auch in ihrem Begriffsinstrumentarium bezeugt. Es reicht von traditionellen Einheitskonzepten (die z.B. ›mittelalterlicher Kultur‹ oder einem ›Kulturraum‹ gelten) über Semantiken des Pflegens spezifischer Ordnungen (z.B. ›höfische Kultur‹, ›Manuskriptkultur‹) bis hin zu Kontingenzperspektiven (die von Kulturen stets im Plural sprechen: ›hybride Kulturen‹ etc.). Doch nicht immer ist dabei nachvollziehbar, aus welchen Voraussetzungen diese Konzepte entspringen. Manche Konzepte, die programmatisch mit mittelalterlichen Streitgedichten verbunden wurden – man denke etwa an Michail Bachtins Idee karnevalesker ›Volkskultur‹ –, entpuppen sich bei näherer Hinsicht als unhaltbar für die Vormoderne, da sie zuallererst modernen Ideologien verpflichtet sind.1 Kritisch ist daher zu fragen: Wie weit ist nach derzeitigem Stand der Forschung reflektiert, ob geläufige Kulturbegriffe mittelalterlichen Texten adäquat sind? Und welche Chancen und Grenzen sind der historischen Rückübertragung solcher Konzepte vorgezeichnet, auch wenn sie ursprünglich nicht an Texten des Mittelalters gewonnen wurden?

      Eine aktuelle Bestandsaufnahme – sozusagen den ›state of the art‹ – repräsentiert das von Christiane Ackermann und Michael Egerding herausgegebene Handbuch zu »Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik«.2 Der Sammelband ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil er eine beachtliche Reihe methodischer und theoretischer Paradigmen aufführt, die für die aktuelle Diskussion der mediävistische Literaturwissenschaft produktiv sind. Er ist auch deshalb besonders einschlägig, weil seine Beiträge eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturbegriffe3 aufrufen und an exemplarischen Textanalysen veranschaulichen, die zugleich repräsentativ für die Begriffspraxis der mediävistischen Literaturwissenschaft insgesamt gelten können.

      Es ist hier selbstverständlich nicht das Ziel, sämtliche Beiträge zu referieren. Ich beschränke mich stattdessen darauf, einige Positionen ausführlicher vorzustellen, an denen sich das Spektrum geläufiger Kulturbegriffe und deren methodischer Stellenwert abschätzen lassen. Konzepten der Kultur kommt dabei wichtige Bedeutung zu, indem sie Untersuchungsrahmen abstecken, Erwartungen an Dimensionen von Unterschiedlichkeit wecken und somit auch den Blick der Textanalyse lenken. Dies gilt allen voran etwa für Ansätze des ›New Historicism‹, die sozialgeschichtliche und literatursoziologische Fragen zur historischen »Poetik der Kultur« umschreiben (S. 387).4 Im Unterschied zu sozialgeschichtlichen Unterscheidungen von Text und Kontext ist »der historisch-kulturelle Hintergrund eines Textes nicht fraglos gegeben, sondern […] selbst ein ›Interpretandum‹«, wie Claudia Lauer festhält (S. 384). Kultur als »geschichtliche Umgebung« (ebd.) wird damit nicht nur auf Gegenstandsebene verortet, sondern als textförmig betrachtet: Wenn man »Kultur« als »Gewebe« von Texten betrachtet (S. 385, Roland Barthes; vgl. auch S. 386f.), die von gemeinsamen »Kulturkräfte[n]« (S. 385) und »Kulturprozess[en]« (S. 386) dynamisch durchzogen sind, lässt sich ihre allgemeine »Poetik der Kultur« mit literaturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben (S. 387). »Literatur und Kultur« werden so engstens verwoben, ohne doch unterschiedslos identifiziert zu werden (S. 386). Kritisch ist jedoch festzuhalten, dass der ›New Historicism‹ trotz seiner grundsätzlich weiten Ausrichtung die kulturhistorischen Erkenntnisinteressen der Mediävistik nur begrenzt fördern konnte. Denn viele kulturpoetische Untersuchungen bevorzugen »Pluralität« und »Heterogenität« des dargestellten Materials, um eher ihre eigene Konstruktionsarbeit zu inszenieren, weniger aber um spezifische Eigenschaften des Objektfeldes herauszustreichen (S. 387). Zudem habe etwa die Altgermanistik eigene Methoden hervorgebracht, die weitaus differenzierter der »Rekonstruktion zeitlich ferner und kulturell fremder Kontexte« (S. 388) Rechnung tragen als Stichworte wie »Kultur als Text« oder »Zirkulation sozialer Energie« (S. 388f.). Entsprechend kommt die Differenz von »Literatur und Kultur« denn auch weniger als Analyseinstrument zum Sangspruchdichter Boppe selbst zum Tragen (S. 391–399), als vielmehr um Beobachtungen nochmals zu reformulieren (S. 400f.).

      Auch Performativitätstheorien bringen unterschiedliche Kulturbegriffe u.a. der Sprachphilosophie und Linguistik, der Sozialwissenschaften und Ritualforschung, der Kunst- und Theaterwissenschaft zusammen.5 Als gemeinsamen Fluchtpunkt machen Ulrich Barton und Rebekka Nöcker aus, dass das weitverbreitete Verständnis von Kultur als Kontext (z.B. S. 422) einen praxeologischen Akzent erhält. In diesem Sinne zielen Performativitätstheorien auf die »Ausführungs-, Vollzugs- und Aufführungsdimension […] kultureller Praktiken« (S. 407; zu »kulturellen Praktiken« oder »Kulturpraktiken« vgl. auch S. 414, 416, 421). Das Praxiskonzept der Kultur lässt sich freilich vielfältig ausfächern. Je nachdem, ob sich das Erkenntnisinteresse auf strukturelle, ästhetische oder soziale Aspekte von Vollzügen richtet, lässt sich von »Darstellungskultur« (S. 407, 417) und »Kultur als Aufführung« (S. 410) sprechen oder nach dem »Aufführungscharakter von Kultur« (S. 410), der »kulturelle[n] Wirkung des Texts« (S. 421, vgl. auch 422) oder der »kulturelle[n] Konstitution« z.B. von Identität (S. 415) und der »kulturerzeugende[n] Wirkung des alltäglichen Lebens« (S. 417) fragen. So heterogen die zusammengeführten Disziplinen und Theorien sind, so unterschiedlich fallen auch die Leitverständnisse von Kultur aus, die diese mit sich bringen. So zielen etwa die Ritualtheorien Victor Turners / Arnold van Genneps auf geprägte Transformationsmuster zwischen »sozio-kulturellen Status- und Identitätsbereichen« (S. 414), während andere Theorien »Kultur« als spezifischen Bereich gegenüber »Justiz, Kirche, Militär, Sport« hervorheben (S. 417) oder spezifische Bereiche des Pflegens beleuchten (z.B. S. 420: »Emotionskultur«; S. 421: »literarisch[e] Kultur«). Aber auch ganz unspezifisch lasse sich eine »performative Sichtweise auf Kultur« (S. 410) einnehmen (so auch S. 407: »Perspektiven auf Kultur«). Obwohl die mediävistische Literaturwissenschaft allgemein an den »kulturwissenschaftlichen« Performativitätsbegriff anschließt (bes. S. 424–428), tritt der Kulturbegriff argumentativ in den Hintergrund, sobald ein konkretes Fallbeispiel wie das geistliche Spiel in den Blick tritt (S. 423–445). Statt umfassender Praxiskonzepte bezeichnet ›Kultur‹ dann enger oder weiter gezogene sozialgeschichtliche Kontexte, von der »höfischen Minne-Kultur« (S. 428, Anm. 129; vgl. auch S. 431) bis zur »antike[n] Kultur«, aus der das Theater hervorging (S. 435).

      Ähnlich lassen sich Kulturbegriffe auch im Bereich der historischen Emotionsforschung nutzen, um von großen Einheiten bis zu Mikroperspektiven abzustufen.6 In globaler Betrachtung gilt etwa compassio als charakteristisch für die »Kultur des Mittelalters« insgesamt (S. 71), die sich mit anderen »Kulturen« als großen sozialhistorischen Einheiten vergleichen lässt (S. 74). Solche Perspektiven können »interkulturell« und »kulturübergreifend« vergleichen (S. 74, 81), aber auch sektoriell unterschiedliche »kulturelle Felder« wie Wissensordnungen, soziale Praktiken oder Künste aufeinander beziehen (S. 68). Schließlich schärft der Kulturbegriff den Blick gerade für abweichende, veränderliche und begrenzte »kulturelle Bedingungen« (S. 74, 76), die je nach sozialem Kontext »kulturell[e] Voraussetzungen« schaffen (S. 81), unter denen z.B. Höfe oder Klöster unterschiedliche »Emotionskulturen« ausprägen (S. 67, 69). Die Frage, wie »kulturell spezifisch« Gefühle inszeniert und erfahren werden, markiert dann den Gegenpol zu globalen und »universell[en]« Perspektiven (S. 74). Somit ermöglicht der Kulturbegriff, Forschungsobjekte wie Emotionen im Singular wie im Plural, unter den Gesichtspunkten von Einheit wie von spezifischer Unterschiedlichkeit zu thematisieren: »[I]n einer Kultur« (S. 80) können dann unterschiedliche »Kulturen« erforscht werden, und dies unter zeitlichen, räumlichen, sozialen, phänomenologischen u.a. Vorzeichen.

      Strategisch setzen auch geschlechtergeschichtliche Ansätze auf dieses Pluralisierungspotential von Kulturbegriffen. Einerseits haben Regulationskonzepte von Pflege und Ordnung (vgl. S. 317), von Norm und Abweichung dazu beigetragen, binäre Genderoppositionen in den Gesellschaften Europas fest- und fortzuschreiben, denen sich Andreas Kraß zuwendet.7 Auch die Mediävistik erforscht solche Normierungsrahmen, wenn sie etwa Ideale und Ausdrucksformen