Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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Distanzbewusstsein und Nähe gleichermaßen«.49 Kontrovers scheint darüber hinaus, ob und welches Konzept von ›Kultur‹ die Darstellung klären könnte. Einerseits wird kritisch betont, »dass Europa in seiner Geschichte niemals eine Einheitskultur gewesen ist«.50 Dennoch reißen die Versuche nicht ab, nach der »gemeinsamen Identität […] einer gemeinsamen kulturellen Tradition« Europas im Mittelalter zu fragen.51 Zum Teil beruht diese Diskrepanz auf unterschiedlichen Forschungsparadigmen:

      Die ältere, auf das christlich-lateinische Abendland beschränkte Sicht und die plurikulturale Perspektive auf Europas Mittelalter stehen weitgehend unverbunden nebeneinander, eine Debatte hat nicht stattgefunden und die Zukunft unseres Geschichtsbildes ist ungewiss.52

      Doch beschränkt sich diese Diskrepanz nicht auf Forschungsperspektiven, sondern betrifft zugleich das Verhältnis zur Ebene ihrer Gegenstände. Zwischen den »gedachte[n] Einheiten«, die jede Forschung einführt, und der »Vielfalt europäischer Kulturen des Mittelalters«, die sich auf Objektebene finden, wachsen methodische Spannungen, die sich nicht restlos auflösen lassen.53

      Einer solchen Diskussion kulturwissenschaftlicher Pluralisierungsannahmen haben sich die historisch orientierten Literaturwissenschaften bislang erst in Ansätzen gestellt.54 Wo etwa die höfische Literatur des Mittelalters als Praxis ›höfischer Kultur‹ an Einzeltexten untersucht wird, steht die Kulturalität mittelalterlicher Literatur selten zur Debatte.55 Darstellungen, die Bewusstsein »für die Pluralität historischer Lebenswelten« schärfen, lassen meist offen, was daraus für den Umgang mit Kulturen abzuleiten wäre, die ein diskrepantes, ambivalentes oder unbegriffliches Verhältnis zu Pluralität charakterisiert.56 Umso bemerkenswerter erscheint diese reflexive Lücke, wenn Forschungsdebatten durchaus das Problembewusstsein für zahlreiche Schieflagen und Inkongruenzen zwischen universalistischen und pluralistischen Diskursen geschärft haben – im Bereich der Altgermanistik betrifft das vor allem das schwierige Verhältnis von ›Geistlichem‹ und ›Weltlichem‹, von ›religiöser‹ und ›säkularer‹ Kommunikation im Mittelalter.57 Auch in dieser Debatte zeichnet sich ab, dass vormoderne Grenzverläufe des Religiösen nicht zuletzt auch die Pluralisierungsvorstellungen der Kulturwissenschaften selbst in diese Beobachtungsschwierigkeiten verwickeln. Immer drängender wird damit für die kulturwissenschaftliche Mediävistik das »Problem«, dass »trotz wachsender Einsicht in die Vielfältigkeit und Heterogenität mittelalterlicher Lebensverhältnisse, Wissensordnungen, Mentalitäten usw. […] deren gemeinsame Basis in der christlichen Religion nie bezweifelt [wurde]«.58

      Die vorliegende Untersuchung möchte literaturwissenschaftliche Anregungen liefern, um eine solche Debatte offener als bisher zu führen. Ihre Fragestellung ist nicht nur mit Blick auf das europäische Mittelalter brisant: Wie gehen Gesellschaften, die sich nicht als Kulturen im modernen Sinne beschreiben, d.h. keine ›diversity‹-Konzepte generalisieren, in ihren Praktiken und Kommunikationsformen dennoch mit Vielfalt um? Wenn die folgenden Studien diese Frage exemplarisch an Erzähltexte des Mittelalters stellen, so schwingt darin also das grundlegende Problem der Beobachtbarkeit fremder Ordnung mit. Es mag sich im Falle historisch fremder Gesellschaften verschärfen, stellt jedoch auch eine prinzipielle Herausforderung gegenwärtiger Gesellschaftsbeschreibung dar. Erkenntnisgewinne wären dann weniger darin zu suchen, die historischen Einsatzstellen für Pluralisierungsprozesse einfach zurückzuverschieben (von der frühen Neuzeit ins Spätmittelalter, von der berüchtigten Hochphase höfischer Literatur um 1200 zurück zu frühen Texten?). Der springende Punkt scheint mir vielmehr bei den impliziten Erwartungen der Pluralisierungsdebatte selbst zu liegen. Warum ist es so schwierig, moderne Konzepte der Diversifizierung in die Vormoderne zurückzuverfolgen? Theorietraditionen der Anthropologie und Ethnologie haben dieses Reflexionsproblem mit Kulturbegriffen eher verdeckt als offengelegt.59 Für die nachfolgenden Studien folgt daraus methodische Vorsicht. Nichts zwingt zunächst einmal dazu, Einfachheit und Vielfalt als Alternativen oder gar als Dichotomie aufzubauen. Entsprechend wäre eher nach den Bedingungen zu fragen, unter denen Kulturwissenschaften alternative Ordnungen beschreiben. Will man den Wandel von Pluralitätsformen selbst beschreiben, verlangt dies, formale Beschreibungen zu entwickeln, die nicht schon den Prämissen einer spezifischen Pluralität unterstellt, nicht einem spezifischen Kulturbegriff verpflichtet sind. Wettkämpfe bieten ein besonderes Feld, auf dem sich dieser Wandel von Pluralitätsformen im vorbegrifflichen Feld studieren lässt. Und ein formales Interesse kann helfen, um deren Unterschiedlichkeit möglichst aufmerksam zu registrieren.

      3 Aufgabenfeld (I): Produktiver Wettkampf, zerstörerischer Streit?

      Wettkämpfe als kulturelle Formen zu begreifen, ist schon deshalb verführerisch, weil sie omnipräsent verbreitet sind. Und doch erschließt sich ihre kulturtheoretische Aussagekraft nicht ohne Weiteres. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ihre basalen Differenzlogiken sich mit vielen Semantiken und Praktiken anreichern, die sie auf spezielle Kontexte abstimmen und dadurch binden. Für ihre Erforschung bedeutete dies nicht nur Differenzierungsgewinne. Denn oftmals prägen Wettkampfformen auch über solche Kontexte hinaus modellhafte Erwartungen; agonale Praktiken der griechischen Antike, des höfischen Mittelalters oder neuzeitlicher Märkte werden dann rasch zu kulturellen Leitmodellen schlechthin überhöht. Um den Blick nicht von vornherein zu verengen, sollen daher im Folgenden zunächst einige Aufgabenfelder genauer sondiert werden, auf die sich die Frage nach Wettkampfkulturen erstreckt. Auf diesem Weg sind drei Herausforderungen abzustecken, denen sich die Untersuchung stellen muss.

      3.1 Paradoxe Wettkämpfe: Perspektiven mediävistischer Literaturwissenschaft

      Eine erste Herausforderung stellt sich unmittelbar mit den paradoxen Figurationen von Kooperation und Aggression, zu denen höfische Romane zentrale Zweikämpfe verdichten. Ihre Spannung bildet an sich kein Spezifikum der europäischen Adelsliteratur: »gesellig[e]« und »antagonistisch[e]« Dimensionen prägen Wettkampfmuster in verschiedensten Zeiten und Gesellschaften.1 Die mediävistische Forschung hat derartige Paradoxien jedoch bislang eher entschärft, indem sie die Irritationen von Wettkämpfen vorrangig auf Konzepte von Einheit bezog, als Dynamik von Anerkennungsbeziehungen verstand oder gezielt nach ihrer Auflösung suchte. Dies verschärfte nicht nur die Frage, welche Relevanz man paradoxen Formen des Widerstreits zubilligt, sondern auch, wie man diese methodisch erfasst, ohne ihre Irritationspotentiale vorschnell zu harmonisieren.2 Drei Positionen der germanistischen Mediävistik geben dazu wichtige Anhaltspunkte.

      Hatten ältere Motivgeschichten die Kämpfe höfischer Epik vor allem als Erkenntnisaufgaben für Figuren und Rezipienten verstanden,3 so lesen sie jüngere sozialgeschichtlich inspirierte Studien als Symbolisierungen adliger Distinktionspraxis nach höfischen Regeln. Für die stratifikatorische Adelsgesellschaft ist die Darstellung von Rang zentral, was im Mittelalter performative Beweise und wechselseitige Bestätigungen von Ehre einschließt, in denen gleichsam symbolisches Kapital angehäuft wird.4 In einem einflussreichen Ansatz hat Harald Haferland für dieses Interaktionsmodell den Begriff des Agon herangezogen.5 Die höfische Literatur spiele in ihren Wettkämpfen ein ›psychosoziales Schema‹6 durch, das die reale »Gewaltfähigkeit des Adels« zugleich auf wechselseitige Kooperation verpflichte:7

      Der Wettkampf wird, was die gemeinsame Einhaltung von Regeln betrifft, ein Stück weit als gemeinsame kooperative Praxis behandelt. Dies tilgt etwas von jener Feindseligkeit, die zu jedem Kampf gehört. Sie wird umgefärbt, moduliert. […] Soweit erscheint der Wettkampf als kooperative Praxis.8

      Im Interaktionssystem der Ehre stehe somit die »gemeinsame Einhaltung von Regeln« im Vordergrund, die besonders in Zweikämpfen zum Tragen komme und einseitige Gewaltakte zugunsten von Anerkennung zurückdränge.9 Doch bleiben paradoxe Spannungen auch in Haferlands Beschreibung präsent: »Feindseligkeit« gehöre »zu jedem Kampf«, Zweikämpfe folgen schließlich nur »ein Stück weit« der Kooperation. Paradox erscheinen auch die sozialen Strukturierungsgewinne, denen Haferlands systematisches Interesse gilt. So setzen Zweikämpfe als adlige Selbstdarstellungsformen einerseits horizontale Ebenbürtigkeit voraus, wie sie etwa in symmetrischen Wechselreden und ritualisierten Kampfabläufen zum Ausdruck kommt.10 Andererseits zielen sie aber auf vertikale Unterschiede, denn zu kämpfen heißt, den anderen überbieten zu wollen.11 Als Kreis von ununterschieden Gleichrangigen, die sich zu unterscheiden suchen, erweist sich die Wettkampfgesellschaft