Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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von Reflexivität,47 als herausragende Beispiele der ›Dekonstruktion‹48 kultureller Spielregeln oder als literarische Arbeit ›vor dem Zeitalter der Literatur‹,49 so mussten solche Perspektiven mühsam gegen ästhetische Normen und literarhistorische Modernisierungsthesen anschreiben,50 die Komplexität eher zum Argument von Wertzuschreibung als zum Werkzeug präziser Textbeschreibung machten.51

      Die folgenden Überlegungen stellen sich dieser Herausforderung im Kontext von Historisierungsschwierigkeiten, welche die kulturwissenschaftliche Mediävistik mit methodischen Prämissen der Pluralisierung übernimmt. Schwierig sind sie, weil sie keineswegs oberflächlich eingehandelt und insofern leicht verzichtbar wären, sondern gewissermaßen zur Arbeitsgrundlage mediävistischer Textwissenschaften gehören. Meine Arbeitshypothese ist demgegenüber einfach: Wenn mittelalterliche Erzählungen einfach und komplex zugleich erzählen, könnten Typen der Vervielfältigung in den Blick treten, die in diesem präzisen Sinne als nicht-kulturförmig zu betrachten wären, insofern sie einen spezifisch modernen Pluralismus des Kulturellen nicht teilen. Doch mit emphatischen Abgrenzungen dieser Art ist natürlich wenig gewonnen: Wie kann man solche Erzählungen zwischen Einfachheit und Vielfalt beschreiben, ohne dafür den Umweg über Negationen zu nehmen? Die komplexen Formen mittelalterlicher Wettkampferzählungen könnten hierzu exemplarische Anregungen liefern, um Pluralisierungsannahmen der mediävistischen Kulturwissenschaften zur Debatte zu stellen. Wie Kulturwissenschaften sich jenen Objekten stellen, die sich kulturwissenschaftlicher Pluralität widersetzen, könnte dann auch über die Mediävistik hinaus zu einer weniger unbehaglichen, dafür aber brisanteren Frage werden.52

      2 Unbehagen in den historischen Kulturwissenschaften

      Unbehagen artikuliert sich besonders in historisch orientierten Forschungszusammenhängen, die Pluralisierungskonzepte der Kulturwissenschaft entschieden aufgenommen haben.1 So ist auch die Mediävistik einerseits im Gefolge des ›cultural turn‹ gewohnt, von vormodernen Kulturen zumeist im Plural zu sprechen. Erforscht wurden etwa »Kulturen des Performativen«2 oder die »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter«,3 um nur zwei prominente Forschungsverbünde des letzten Forschungsjahrzehnts zu nennen. Auch im Rahmen von Projekten und Tagungen dient der Plural der ›Kulturen‹ dazu, neue Sachbezüge vergleichend zu organisieren.4 Andererseits ist hinlänglich bekannt – dies ist im nachfolgenden Kapitel ausführlicher nachzuzeichnen –, dass der Kulturbegriff als historisches Pluralitätskonzept erst seit dem späten 18. Jahrhundert zur Verfügung steht, um Vielfalt von Gesellschaften und ihren symbolischen Ordnungen zu vergleichen.5 Statt auf ein generalisiertes, abstraktes Reflexionssymbol wie den Kulturbegriff stützt sich die historische Kulturtheorie daher eher auf Formen der Reflexion, die eng mit konkreten Artikulationen, Praktiken und Materialitäten verbunden scheinen.6 Kulturtheorien als explizite Theorien irreduzibler Verschiedenheit, so ein weitverbreiteter Konsens, suche man in der Vormoderne vergebens. Kultursoziologische Ansätze leiten daraus die These ab, dass die reflexive Beobachtung von Vielfalt ein spezifisch modernes Kennzeichen sei.7 Erst moderne Kulturbegriffe stellten die Anerkennung von »Diversität«8 und »Kontingenz«9 menschlicher Lebensformen und Symbolsysteme programmatisch in den Mittelpunkt. Die pluralistischen Prämissen der Kulturwissenschaften verdanken sich dieser modernen Beobachtungspraxis.10

      Für vormoderne Literatur ist diese pluralistische Beobachtung keineswegs vorauszusetzen. Dies unterstreichen zum einen Studien der mediävistischen Literaturwissenschaft, die der Kultursemantik kritisch gefolgt sind. Kreuzzugsepischen Erzählungen wie dem Rolandslied bescheinigt etwa Peter Strohschneider eine normative Asymmetrie von Christen und Heiden, von Eigenem und Anderem, die sich von modernen Kontingenzperspektiven als vor-kulturelle Konfliktordnung abhebe.11 Wie Marina Münkler zum anderen anhand spätmittelalterlicher Reiseberichte demonstriert hat, erweisen sich deren Wissensordnungen wiederum als flexibel genug, um ethnische, anthropologische und soziale Fremdheitserfahrungen zu artikulieren und in Zeichensystemen der Ähnlichkeit zu verorten, ohne sie gänzlich zu ignorieren.12 Der kulturfunktionale Status mittelalterlicher Textlogiken und Semantiken ist daher von Fall zu Fall zu prüfen und lässt sich keineswegs aus Einzelstimmen generalisieren. Mit Blick auf die Forschung lässt sich zumindest festhalten: Zur großräumigen Epochensignatur scheint »Pluralisierung« nach allgemeiner Einschätzung kaum vor dem 15. Jahrhundert zu taugen. Erst mit dem »Entstehen konkurrierender Teilwirklichkeiten«13 in der Frühen Neuzeit wandeln sich »Erfahrungen epistemischer Irritation«14 zum dauerhaften »Pluralismus institutioneller Gefüge«15. Emphatisch zugespitzt heißt dies, erst seit der Renaissance von vielstimmigen Repräsentationsmöglichkeiten von Wirklichkeit auszugehen.16

      Doch schon Texte des Hochmittelalters kreisen um alternative Ordnungen und führen vor, dass sich auch anders handeln, anders glauben und anders wahrnehmen lässt. Zunehmende Mobilität von Personen, Kreuzzüge, Reformbewegungen und Fernhandel vervielfältigen die Spannungen und Differenzen ökonomischer, religiöser, wissenschaftlicher oder juristischer Ordnungen ab dem 12. Jahrhundert rasant.17 Auch die mittelalterliche Gesellschaft Europas geht also aus geschichtswissenschaftlicher Sicht faktisch mit Vielfalt um, ihre gelebten Ordnungen sind keineswegs kohärent, einheitlich oder reduktiv.18 Und schon die Geschichtsschreibung des Mittelalters zeichnet solche Differenzen in Gestalt von »unendlich vielen Geschichten im Plural« auf, die kein Kollektivsingular ›der Geschichte‹ eint.19 Zu Recht unterstreichen daher auch literaturwissenschaftliche Studien: »›Die‹ mittelalterliche Kultur ist ein Konstrukt, das es in dieser Homogenität und Ganzheit niemals gibt und nie geben konnte«.20 Wo literarische Texte wie das Nibelungenlied zugleich kulturelle Selbstbeschreibungen liefern, erzählen sie nie von Alternativlosigkeit, sondern immer auch von der Optionalisierung sozialer Ordnung.21 Und selbst kreuzzugsepische Texte wie der Willehalm Wolframs von Eschenbach experimentieren mit symmetrischen Darstellungsformen,22 entfalten »komplexe Überlagerungen« und Hybridisierungsmöglichkeiten, wo die Konfrontation von Christen und Heiden einseitige Ausgrenzungen erwarten ließe.23

      Dennoch symbolisiert die mittelalterliche Gesellschaft diese Vielfalt nicht im positiven Sinne als Diversität. Zwar verfügen mittelalterliche Theologen und Philosophen, Geschichtsschreiber und Juristen durchaus über differenzierte Begriffe, mit denen sie Vielfalt (lat. diversitas, varietas, pluralitas, multitudo und multiformitas, wörtl. auch multiplicitas), Verschiedenheit (z.B. variatio, disparitas) oder Vorgänge der Vervielfältigung (z.B. plurificatio) bezeichnen.24 Anknüpfend an die Differenztheorien platonischer und aristotelischer Tradition systematisierten diese Begriffe nicht nur metaphysische Wesensverschiedenheit und zahlenlogische Vielheit (diversitas numeralis), sondern ebenso die Vielfalt geschaffener Dinge (diversitas rerum), sie galten der Meinungsvielfalt (diversitas opinionum) bis hin zu geistigen Operationen des Unterscheidens (distinctio oder diversitas rationis). In der Regel blieben solche Begriffe von Vielfalt jedoch auf komplementäre Konzepte von Einheit oder Einfachheit zurückbezogen, die keineswegs ein wertneutrales Begriffspaar bildeten. Während Einheitskonzepten in logischer und ontologischer Hinsicht zumeist höhere Dignität zukam, galt Vielfalt als davon abgeleitet und abhängig. Von Boethius und Isidor von Sevilla über Thierry von Chartres und Thomas von Aquin bis zu Nicolaus Cusanus bestand weitgehender Konsens: Vielzahl geht aus Einheit hervor oder mündet in Einheit,25 die Vielfalt der Dinge verweist auf einheitliche Ordnung als Absicht ihres Schöpfers,26 Varietäten sind in der Einheit ihrer Gattung verbunden. Wenn die Einheit der Welt in Vielfalt erfahrbar ist (unitas in pluralitate), so betrachtet Nicolaus Cusanus dies nicht als Reichtum sondern als schrittweise Einschränkung.27 Im gesamten Mittelalter klingt in philosophischen und theologischen Argumentationen ein »Ressentiment« an, das diversitas geradezu topisch mit Falschheit, Verworrenheit und Zwietracht in Verbindung brachte, wie Stephan Meier-Oeser bilanziert: »Während die Assoziation der Einheit mit positiv verstandenen Korrelativbegriffen sich bis in die jüngere Vergangenheit weitgehend konstant durchhält, erscheint die Bewertung der [Vielheit] seit jeher als ambivalent.«28 Diesen Eindruck einer ambivalenten Begriffsgeschichte teilt auch die mediävistische Geschichtswissenschaft bis in jüngste Zeit:

      Im Mittelalter selbst war der Begriff des Einen und der Einheit gegenüber der Vielheit deutlich positiver besetzt. Mit ihm wurde der Geist und die Seele assoziiert, die Wahrheit und die Güte, die Ordnung und das Ganze, Liebe und Frieden, die Ähnlichkeit und das Universum. Pluralitas