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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln. Die Narrenfreiheit der Internierungslager wie die Verfolgungen, die unabhängig sind von dem, was einer sagt oder meint, machen gleicherweise den Betroffenen mundtot in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Und an diesen Verlust reiht sich der Verlust der öffentlich gesicherten Gemeinschaft überhaupt, der Fähigkeit zum Politischen, die, wie immer man sie deutete, seit Aristoteles ebenfalls als Kennzeichen des Menschseins überhaupt galten. Hier treten mit anderen Worten Verluste ein, die wir im Sinne der abendländischen Tradition nur als Verlust einiger der essentiellen Charaktere menschlichen Lebens überhaupt verstehen können. (ebd.: 615)

      Diese Form existenzieller Deprivation, der Gemeinschaftslosigkeit und Unverbundenheit mit der Welt und damit die Unmöglichkeit, in die geteilte Öffentlichkeit einer politischen Gemeinschaft hineinzuhandeln, mündet letzlich in einer unvergleichlichen „Flüchtigkeit“ (ebd.: 621): Staatenlose „sterben, ohne eine gemeinsame Welt errichtet zu haben, in der jeder seine Spuren hätte hinterlassen können und die insgesamt der menschlich verständliche Ausweis ihrer Existenz hätte sein müssen“ (ebd.). Nichts – zumindest im Arendtschen Sinne – bleibt von ihnen, wenn sie sterben, nichts kann verhindern, dass sie ‘auf ewig’ „aus dieser weltlichen Wirklichkeit wieder verschwinden“ (Arendt 1960: 191) – es ist posthum geradezu, als seien sie nie ‘da’gewesen, als hätten sie nie existiert, als gäbe es gar kein posthum.

      Und auch schon zu Lebzeiten kommt diese ihre „Standlosigkeit in der gesamten Menschenwelt“ letzlich einer „Überflüssigkeit“ gleich (Arendt 2013: 612), was ohne Zweifel große Risiken für ihr Leben birgt: Erstens aufgrund ihrer Rechtlosigkeit, denn „das Recht auf Leben wird erst in Frage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit – und das heißt, daß niemand sich bereit findet, Rechte für diese bestimmte Kategorie von Menschen zu garantieren – eine vollendete Tatsache ist“ (ebd.: 612); zweitens aufgrund ihrer Weltlosigkeit, denn „[i]hre Unbezogenheit zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenzen für die Überlebenden bleibt“ (ebd.: 624). Und dies wiederum birgt eine Gefahr für die ‘Welt’ selbst: eine „Abstumpfung unseres Gewissens“ (Arendt 2011: 405):

      Denn es könnte geschehen, daß es uns […] gar nicht mehr recht ins Bewußtsein dringt, daß überhaupt ein Mensch ermordet worden ist, wenn er praktisch vorher bereits aufgehört hat zu existieren. (ebd.)

      ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer – die Arendtschen Staatenlosen des 21. Jahrhunderts

      Die Literatur bezüglich Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit, ihrer Menschenrechtskritik wie ihrem „Recht, Rechte zu haben“ ist zu zahlreich und vielschichtig, um hier gebührend Erwähnung – geschweige denn Behandlung – zu finden. Jedoch konnte in einigen jüngeren Arbeiten meines Erachtens überzeugend gezeigt werden, dass Arendts Perspektive, aller juridischen und sonstigen Veränderungen auf internationaler Ebene zum Trotz, noch immer aktuell und fruchtbar ist (z.B. Gündoğdu 2012, 2015, Parekh 2008, 2013). Zwei maßgebliche Brennpunkte der Kritik an Arendts Ansatz seien aber ebenso erwähnt: Zum einen der Vorwurf, sie vertrete ein essentialistisches, (quasi-)aristotelisches Menschenbild (z.B. Buchwalter 2014: 180, Lechte/Newman 2012: 528, Rancière 2011); zum anderen der Vorwurf, Arendts Perspektive unterschätze bzw. unterminiere die tatsächlichen Akteursqualitäten und Möglichkeiten (politischen) Handelns auf Seiten der Staatenlosen (z.B. Beltrán 2009, Bradley 2014, Krause 2008, Rancière 2011). Obschon ich diese zwei Kritikpunkte für – mindestens in Teilen – angebracht und in Hinblick auf eventuelle Anpassungen bezüglich Arendts Ansatz hilfreich halte, bin ich doch der Überzeugung, dass Arendts Analyse der Staatenlosigkeit auch heute noch einschlägig ist. Zum Ersten: Freilich ist Arendts politische Theorie mit einem spezifischen Menschenbild verbunden bzw. von ebendiesem bestimmt – oder umgekehrt –, welches sich zweifellos niemand notwendigerweise zu eigen machen muss; trotzdem ermöglicht gerade diese ihre Perspektive den wertvollen Fokus auf die gravierende existenzielle Deprivation der Weltlosigkeit, die mit der Rechtlosigkeit der Staatenlosen einhergeht. Zum Zweiten: Auch wenn mir die Betonung der Ansprüche von Staatenlosen auf individuelle (Handlungs-)Autonomie und Akteursstatus als legitimer Weg erscheint, dem vermeintlichen Dilemma der Arendtschen Recht- und Weltlosigkeit der Staatenlosen zu begegnen, gehen doch alle diese Ansätze letzlich davon aus, dass sich Staatenlose bereits auf dem Territorium eines bestimmten (National-)Staats bzw. innerhalb einer bestimmten politischen Gemeinschaft befinden, in dem/r sie politisch aktiv werden könn(t)en. Letzteres aber ist in Hinblick auf die ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer nicht gegeben, weshalb ich der Auffassung bin, dass die von Arendt identifizierte Recht- und Weltlosigkeit auf sie in radikaler Weise zutrifft, dass in ihnen – quasi ‘par excellence’ – die Arendtsche Staatenlosigkeit des 21. Jahrhunderts Gestalt annimmt.

      Anlässlich zweier Schiffsunglücke vor Lampedusa im Oktober 2013, welche Hunderten ‘Bootsflüchtlingen’ das Leben kosteten, hat die International Organization for Migration (IOM) das Missing Migrants Project1 ins Leben gerufen, den ersten globalen Datensatz bezüglich Todesfällen, die sich während Migrationsbewegungen ereignen (IOM 2016a: 25). Laut dieser Datenerhebung kamen im Jahr 2014 3279 ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer ums Leben (IOM 2016b). Im darauffolgenden Jahr waren es bereits 3770 Menschen, was das Jahr 2015 zum bisher tödlichsten für ‘Bootsflüchtlinge’ auf dem Mittelmeer werden ließ (IOM 2016a: 5f.). Jedoch schickt sich das Jahr 2016 an, seinem Vorjahr den Rang abzulaufen (ebd.: 23). Bis zum 11. Oktober 2016, 9:00 Uhr MEZ, starben bereits 3611 ‘Bootsflüchtlinge’ auf ihrem Weg über das Mittelmeer (IOM 2016b). Damit kann dieses seinen ‘Titel’ als tödlichste Flucht-/Migrationsroute der Welt mit einem Anteil von 80(!) Prozent an allen Todesfällen während der Migration weltweit im Jahr 2016 nach bisherigem Stand bestätigen (IOM 2016a: 23). Wohlgemerkt handelt es sich bei diesen Zahlen allerdings tendenziell eher um ungefähre bzw. Minimalzahlen, da eine unbekannte Anzahl von ‘Bootsflüchtlingen’ buchstäblich einfach ‘untergeht’ und somit undokumentiert bleibt (ebd.: 3); und bei dieser Anzahl könnte es sich unter Umständen sogar um die Mehrheit der Todesfälle handeln (ebd.: 4) – wir wissen es einfach nicht. Zwar können die von der IOM veröffentlichten Zahlen als mehr oder minder gesichert gelten, letztlich sind sie aber nicht mehr als ‘vorsichtige’ Schätzungen; keine nationale oder internationale Behörde verfügt über genaue Informationen bzw. Daten (ebd.: 24f.). Vor diesem Hintergrund muss die IOM (2016a: 1) bezüglich der ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer konstatieren:

      Among the numbers reported by IOM are bodies found and people known to be missing and presumed dead. Countless more are never heard of; they simply disappear. Perhaps the families of these dead know, and perhaps they do not. […T]he majority, even among deaths that are known of, are never officially identified.

      Diese Menschen verschwinden einfach, ohne dass wir davon wüssten, ohne dass wir überhaupt wüssten, dass sie jemals existiert haben – und potenziell ohne dass dies überhaupt auch nur irgendjemand weiß. Sie sind die ‘Überflüssigen’ von Heute, die, deren Existenz scheinbar unwesentlich ist. Die ‘Bootsflüchtlinge’ des Mittelmeeres exemplifizieren somit in geradezu idealtypischer Weise die Arendtschen Staatenlosen des 21. Jahrhunderts. Und dies hat nicht zuletzt die Europäische Union zu verantworten, die ihnen einen legalen und damit sicheren Weg in eine politische Gemeinschaft verweigert.

      Erinnern wir uns nun abermals an das „Ghost Boat“ mit 243 staatenlosen Menschen an Bord: Ist es tatsächlich möglich, dass solch ein Schiff mitsamt allen Passagier_innen einfach ‘verschwindet’, ohne dass wir auch nur irgendetwas, geschweige denn Genaues, davon und/oder darüber wüssten? Für Yafet aus Eritrea, Jahrgang 1987, ist dies noch immer unverständlich. Er kann es nicht verstehen. Seine Frau Segen, damals 24, war gemeinsam mit ihrer Tochter Abigail, damals zwei Jahre alt, an Bord dieses Schiffes. Er und ihre zweite Tochter Shalom, die heute vier Jahre alt ist, blieben im Sudan zurück. Er weiß nicht, ob Segen und Abigail noch leben, weiß nicht, was ihnen geschehen ist. Das letzte Mal, dass er Segens Stimme hörte, war am 27. Juni 2014 via Telefon; einen Tag bevor das Schiff in See stechen sollte. Sie wollten über Italien nach Norwegen reisen, wo der Asyl- und Familienzusammenführungsprozess vergleichsweise ‘zügig’ vonstatten geht. Dann wollten Yafet und Shalom den beiden