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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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rhetorische Funktion hinaus aber auch noch eine weitere Bedeutung, indem sie vielleicht doch auch eine metaethische Differenz markiert? Etwa, weil ethische Verantwortung unterschiedlich konzipiert wird?

      Verantwortung, ein ethischer Begriff, der im 20. Jahrhundert große Karriere gemacht und den Pflichtbegriff abgelöst hat, ist ein mehrstelliger Relationsbegriff. Unabhängig davon, wie viele Relationen er unterschiedlichen Verantwortungstheorien zufolge genau umfasst, besteht Einigkeit darüber, dass er mindestens dreistellig ist: „Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsgegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Adressat oder Verantwortungsinstanz) verantwortlich.“ (Werner 2011: 543). Wer sich mit Webers Unterscheidung als Verantwortungsethiker sieht, muss folglich bestimmen, als wer er wofür und vor wem Verantwortung wahrnimmt. Erstaunlicherweise wird dies häufig nicht explizit gemacht. Bei Ott bleibt vor allem undeutlich, wie die Verantwortungsinstanz aufgefasst wird, während klar wird, dass er die Verantwortungsinstanz des Gesinnungsethikers, nämlich das einzelne Individuum als Menschenrechtssubjekt, als ungenügend empfindet. Sein Hinweis, der Verantwortungsethiker verstehe sich als Verfassungspatriot, kann hier nicht ausreichen, denn Verfassungspatriotismus zeichnet eine Bürgerrolle aus, aber es ist keineswegs damit bereits impliziert, dass sich die Verantwortung des Bürgers normativ allein auf die Verfassung bezieht. Dies ist auch aus der Verfassung heraus unplausibel, da die Präambel des Grundgesetzes das deutsche Volk in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sieht und zudem der Grundrechtekatalog mit der Gewissensfreiheit nicht nur voraussetzt, sondern auch anerkennt, dass Menschen sich moralischen Horizonten verpflichtet fühlen, die dem Grundgesetz vorausgehen. Verantwortungsethiker sehen sich ebenfalls den Menschenrechten – und damit auch dem Asylrecht – verpflichtet, wie Ott (2016: 52) unterstreicht. Allerdings richtet sich der Hauptkritikpunkt, den er gegen die gesinnungsethische Perspektive erhebt, gegen die so genannten „overridingness“ moralischer Normen, sodass Menschenrechte (und überhaupt universelle ethische Normen) als höchste Verantwortungsinstanz für ihn ausscheiden. Overridingness und moralischer Individualismus hängen Ott zufolge zusammen und bedeuten, dass Individuen über subjektive moralische Rechte verfügen, die mit normativer Priorität gegenüber anderen Gründen – etwa ökonomischer, sozialer oder kultureller Art – ausgezeichnet sind (vgl. ebd.: 31–34). In diesem Geltungsprimat besteht der Grund, dass gegenüber menschenrechtlichen Ansprüchen von Flüchtlingen kaum je eine Aufnahmebegrenzung zu legitimieren ist – eine verantwortungsethische Position lässt sich, wie Ott andeutet, auf dem Boden des moralischen Individualismus gar nicht entwickeln (ebd.: 32f.). Wenn Hilfspflichten gegenüber Notleidenden aber mit Kant „unvollkommene Pflichten“ sind und das Maß ihrer Erfüllung folglich mit anderen Gütern bzw. Folgenerwägungen abgeglichen werden darf (vgl. ebd.: 73), stellt sich doch die Frage, in welchem normativen Horizont dies geschieht, also das Wohl welchen Kollektivs dagegen in welcher Weise gewichtet wird. Da die verantwortungsethische Position eine ethische Position ist, erhebt sie den Anspruch, der gesinnungsethischen Perspektive gegenüber nicht nur effizienter oder ökonomisch vorteilhafter, sondern auch aus ethischen Gründen vorzuziehen zu sein; dazu bedürfte sie aber gerade einer verantwortungsethischen Vertiefung.

      Das lässt sich auch gegenüber Anselms theologisch-ethischer Zurückweisung der „gesinnungsethischen“ Priorisierung universeller Menschenrechte einwenden. Er folgert aus der reformatorischen Grundeinsicht, die er in der Grenzziehung zwischen Gott und Mensch erblickt, eine grundsätzliche Differenz zwischen religiös-universalen und politisch-partikularen Sphären. Diese Grenzziehung ist ihm zufolge das fundierende Prinzip sowohl des reformatorischen Glaubens als auch der modernen Politik (Anselm 2016: 163f.). Gesinnungsethisch würde in der Flüchtlings- und Migrationspolitik auf grundsätzliche Teilhaberechte der Migranten verwiesen, die als vorstaatliche Rechte von jeder staatlichen Ordnung anzuerkennen seien. Damit werde jedoch die reformatorische Leitidee der Differenz zwischen Religion und Politik unterlaufen, denn „hier wird letztlich eine aus einer religiösen Überzeugung abgeleitete regulative Idee – nämlich die der grundsätzlich gleichen Rechte aller – als direkte Leitlinie auf den Bereich der Politik übertragen, jedoch so, dass sie von der Politik nur rezipiert, nicht aber begründet oder modifiziert werden kann“ (ebd.: 166). An Anselms Position überrascht nicht nur, dass die Einsicht in die normative Gleichheit aller Menschen als exklusiv religiöse Einsicht aufgefasst wird, die dem politischen Raum nur auferlegt werden kann, und als sei sie nicht ein Axiom der modernen demokratischen Politik; es verwundert auch, wie beliebig der normative Horizont bleibt, in dem er die Verantwortung des Politikers einordnet. Der Politiker müsse nämlich, so Anselm, für die Folgen seines Tuns einstehen und abwägen, welche Konsequenzen er für das Erreichen seiner Ziele, die ihm wichtig sind und die „seiner eigenen Überzeugung entspringen“, tragen und welche Kompromisse er eingehen möchte (ebd.). Kann man zu Beginn des 21. Jahrhunderts über die legitimen Ziele eines Politikers wirklich nicht mehr sagen, als dass sie eben individuell-authentisch seien – wird man nicht bei einem demokratischen Politiker erwarten dürfen, dass seine Zielsetzungen auch mit universalistischen Orientierungen etwas zu tun haben? Anselms pathetische Formulierung, der Raum des Politischen müsse von universal-normativen Zumutungen frei gehalten werden, indem im reformatorischen Geist „der Absolutsetzung von ethischen Positionen im Namen des Absoluten“ (ebd.: 167) entgegengetreten wird, und sein Hinweis auf „transparente Verfahren“ führen hier nicht weiter, da es unmittelbar zur ethischen Verantwortung gehört, dem demokratischen Diskurs gehaltvolle normative Positionen erst einmal zuzuführen. Hilft hier vielleicht ein Blick zurück auf Weber weiter?

      Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für Weber das Herzstück seines auf einem Vortrag basierenden Aufsatzes über „Politik als Beruf“. Verantwortungsethik ist für ihn weniger ein Ethik-Typ als ein bestimmtes Ethos, nämlich das Ethos jenes Politikers, der das Gegenstück zum sozialistischen oder kommunistischen Politiker darstellt, der um der Revolution willen jedwede Folgen seines Handelns in Kauf zu nehmen gewillt ist. Gleichwohl ist sein Politiker ein moderner Politiker, der im „Interessenbetrieb“ der Politik klug agiert und auf die Kooperation mit anderen angewiesen ist (Weber 1992: 38). Weber erkennt nämlich, dass die moderne Politik (seiner Zeit) auf einen Parteiapparat angewiesen ist und zudem mit einer Massengesellschaft zu tun hat. Politiker müssen die Unterstützung der Massen für sich gewinnen und außerdem den Parteiapparat hinter sich bringen, den sie benötigen, um ihre Wähler zu erreichen. Daher ist Webers Politiker eine charismatische Führungspersönlichkeit (ebd.: 59f). Was den Politiker aber eigentlich ausmacht, und worin auch die Faszination von „Politik als Beruf“ liegt, ist der Umgang mit Macht – Macht, die darin spezifisch politisch ist, dass sie mit „Gewaltsamkeit“ verbunden ist (ebd.: 68). „Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in der Hand menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt.“ (ebd.: 77). Welches Politikerethos entspricht dem?

      Drei Eigenschaften sind laut Weber für den Politiker entscheidend: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“ (ebd.: 62), wobei Weber die Leidenschaft sofort versachlicht zur „Hingabe an eine Sache“. Da er das Verantwortungsgefühl ebenfalls auf die „Sache“ bezieht, wäre zu erwarten, dass diese „Sache“ nun als Verantwortungsinstanz auch inhaltlich entfaltet wird. Weber weist zunächst jedoch nur auf die Kombination zwischen Leidenschaftlichkeit, also der inneren Verbundenheit und Hingabe an die Sache, und der Distanziertheit und Selbstkontrolle hin, die den echten Politiker vom „Dilettanten“ unterscheidet. Zwar kann die „Sache“ nicht einfach die Macht sein, für die der Politiker brennt (ebd.: 64). Das Was der Sache ist Weber zufolge aber ganz gleichgültig und kann nationaler, religiöser, moralischer oder auch rein alltäglich-pragmatischer Natur sein, sofern nur eine authentische, persönliche Bindung daran besteht: „Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und verwendet, ist Glaubenssache.“ (ebd.: 65). Nun fragt sich freilich, inwiefern ein „Verantwortungsgefühl“ dieser Sache gegenüber hinreichend konturiert werden kann, wenn sie so wenig bestimmt ist. Reduziert sich die Verantwortung damit nicht auf den Willen, die „Sache“ zu realisieren? Und wie unterscheidet sich dies vom Gesinnungsethiker und vom Diktator? Für Weber liegt dies in der Art des „Verantwortungsgefühls“. Falsch und „würdelos“ ist es für Weber, die Politik dadurch zu moralisieren, dass „Schuldige“ für Geschehnisse gesucht werden, die nun einmal geschehen sind. Ganz offenbar steht