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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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auch in Zweifel, ob wissenschaftlich betriebene Ethiken ihre Geltung erweisen können. Sich dann wegen der Exklusivität öffentlicher Diskurse mit einer wissenschaftsinternen Bewährung zufrieden zu geben, wäre keine überzeugende Lösung. Denn wissenschaftlich betriebene Ethiken werden die den öffentlichen Diskursen zugeschriebene Exklusivität mit eigenen Mitteln nicht kompensieren können, sondern werden – im Gegenteil – diese durch die den Wissenschaften eigenen Zugangsbarrieren potenzieren.

      Die Exklusivität öffentlicher Diskurse können wissenschaftlich betriebene Ethiken allerdings gezielt ausgleichen. Weil sie ihre diskursive Rationalität in öffentlichen Diskursen „haben“, antizipieren EthikerInnen die Bewährung ihrer Ethiken in eben diesen und bereiten deren Bewährung mit entsprechenden Gründen gegenüber antizipierten Gegengründen und Einwänden vor. Mit den Mitteln ihrer Wissenschaften können sie dabei den Zugang zum Urteilsvermögen derer „da unten“ suchen und können deren Urteile über deren Lebensverhältnisse und deren Interessen auf das Niveau der in ihren Ethiken intendierten Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit bringen – oder aber sie daran kritisch beurteilen und sie zurückweisen. Je mehr EthikerInnen darüber wissen, wie Subalterne ihr Urteilesvermögen mit welchen Ressourcen und Behinderungen vollziehen, wie sie im Vollzug ihres Urteilsvermögens von anderen behindert werden und wie ihnen der Zugang zur „Gerechtigkeit“ erschwert und verwehrt wird, wird es möglich sein, diesen Zugang zu den „Gerechtigkeiten von unten“ auf dem Niveau wissenschaftlichen Argumentierens zu finden. Indem sich wissenschaftlich betriebene Ethiken Zugänge zum Urteilsvermögen der Subalternen verschaffen, deren Urteile in ihren eigenen Überlegungen berücksichtigen und diese schließlich öffentlichen Diskursen zur Bewährung „überlässt“, tragen sie die „Gerechtigkeiten von unten“ in die öffentlichen Diskurse ein. Entsprechend gestimmte Ethiken sind daher gegenüber öffentlichen Diskursen in besten Sinne aufklärerisch – und gegenüber Subalternen und ihren besonderen Gerechtigkeiten advokatorisch, ohne darin paternalistisch sein zu müssen. Sie tragen dazu bei, das dem Konzept „Gerechtigkeit“ inhärenten inklusiven Versprechen einzulösen.

      Literatur

      Arendt, Hannah (1979). Das Leben des Geistes, München: Piper.

      Bourdieu, Pierre (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Bourdieu, Pierre (1997). Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz.

      Dubet, François (2008). Ungerechtigkeiten: Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. Hamburg: Hamburger Edition.

      Honneth, Axel (2000). Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft. In: Honnet, A. (Hrsg.) Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 110–129.

      Rieger-Ladich, Markus (2014). Ungerechtigkeit. Merkur 68:787, 1081–1090.

      Terpe, Sylvia (2009). Ungerechtigkeit und Duldung: Die Deutung sozialer Ungleichheit und das Ausbleiben von Protest. Konstanz: Universitätsverlag.

      Willems, Ulrich/Winter, Thomas von (Hrsg.) (2000). Politische Repräsentation schwacher Interessen. Opladen: Leske + Budrich.

      Politik

      Das Ethische und das Politische – Konturen einer (un-)möglichen Konstellation

      Dietmar Wetzel

      Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den politischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.

      Hannah Arendt (2016: 10–11)

      1. Einleitung

      Viel besser als in diesem zentralen Ausschnitt aus der Arbeit „Wir Flüchtlinge“ (orig. 1943) von Hannah Arendt, ist die Situation und die Gefühlswelt von Flüchtlingen und Migrant_innen wohl kaum auf den Punkt gebracht worden. Ausgehend von der gegenwärtigen Krise der Gesellschaften, die weit mehr als „nur“ eine „Flüchtlingskrise“ ist, möchte ich grundsätzliche Fragen zum Ethisch-Politischen aufwerfen. Wie hängen das Ethische und das Politische zusammen? In welchem Verhältnis stehen diese Begriffe/Konzepte zueinander? Wie wird diese Konstellation in der Sozialphilosophie behandelt? Diese und weitere Fragen möchte ich im Folgenden nicht mit dem Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung behandeln, sondern vielmehr programmatisch zu beantworten versuchen. Um dies leisten zu können, nehme ich eine Diskussion auf, mit der ich mich vor über fünfzehn Jahren begonnen habe zu beschäftigen, und führe diese zugleich weiter. In meiner Dissertationsschrift „Diskurse des Politischen. Zwischen Re- und Dekonstruktion“ (Wetzel 2003) habe ich Positionen und Theorien des Ethischen mit denen der Politik/des Politischen ins Verhältnis zu setzen versucht. Aus den damals geleisteten Re- und Dekonstruktionen und unter Berücksichtigung aktueller Reflexionen zum Ethisch-Politischen resultiert meine These: Das Ethische und das Politische stehen in einem produktiven Widerstreit zueinander, den es nicht aufzulösen, sondern – normativ gesprochen – aufrechtzuerhalten gilt. Um diese These auszuführen respektive zu begründen, gehe ich wie folgt vor. In einem ersten Schritt thematisiere ich den, wie ich es nennen möchte, „Stachel der Ethik“,1 indem ich die Bedeutsamkeit, aber auch die Schwierigkeiten bezüglich einer ethischen Reflexion unterstreiche (Abschnitt 1). Daran anschließend problematisiere ich den in der gegenwärtigen Diskussion der politischen Theorie wichtigen Unterschied zwischen der Politik und dem Politischen. Mit diesem Schritt gelingt eine Öffnung eines rein normativen Politikverständnisses hin zu einer Infragestellung der damit verbundenen Ordnungsvorstellungen (Abschnitt 2). Nach diesen, sozusagen vorbereitenden Überlegungen stelle ich drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen vor, die sich exemplarisch in der einschlägigen Literatur wiederfinden lassen (Abschnitt 3).2 Die dabei stärker theoretischen Reflexionen versuche ich schließlich an einem aktuellen Beispiel kurz zu veranschaulichen. Thema dabei sind die Grenzen der Gastfreundschaft im Kontext der sogenannten „Flüchtlingskrise“ (Abschnitt 4). Im Fazit nehme ich die verschiedenen Stränge auf und fasse meine Argumentation in drei Punkten nochmals zusammen (Abschnitt 5).

      2. Der Stachel der Ethik

      Ethik beziehungsweise die ethische Reflexion erfüllen in unserer Zeit zweifellos eine wichtige Funktion. Gerade im Zusammenhang mit Fragen der Aufklärung lässt sich ethisches Nachdenken nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Diskurs der (Post-)Moderne wegdenken.1 Ob es um Fragen der Genetik, den Umgang mit der Ökosphäre oder schlicht um das Zusammenleben von Individuen und Gruppen geht, Ethik (und Moral) sind immer mit im Spiel. Ethik kommt praktisch überall zum Einsatz, was einer inflationären Handhabe eher zu- als abträglich ist – und im schlimmsten Fall zu Heuchelei und zu einem „Tun-Als-Ob“ (siehe Ruhnau/Kridlo/Busch/Roessler 2000) führen kann. Dennoch hilft uns Ethik dabei, unsere moralischen Grundlagen und Einstellungen zu durchdenken.2 Zudem möchte ich Ethik insofern als einen „Stachel“ begreifen, als dieser uns antreibt, über ungerechte Zustände der Welt nachzudenken (und womöglich etwas dagegen zu tun). In einem sehr instruktiven Beitrag hat Jelica Šumič (1997) auf die schwierige Beziehung zwischen Ethischem und Politischem bereits hingewiesen. Nachdem lange Zeit die Ethik aus dem öffentlichen Diskurs der Moderne ausgeschlossen war, trifft man sie als eines der zentralen Themen wieder in eben diesem öffentlichen Diskurs an. Dazu schreibt Šumič dezidiert:

      Sie (die Ethik) scheint als eine Art schlechten Gewissens überall dorthin zurückzukehren, von wo sie zuvor verbannt wurde. So kann heute sozusagen von einer ‘Rache der Ethik‘ gesprochen werden. Die Berufung auf die Ethik bzw. das Gute ist zum handlichen Rechtfertigungsmittel fast jeden Geschehens geworden (Šumič 1997: 231).

      So werden im Namen biopolitischer Maßnahmen Frauen