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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Interessenvertretung und -durchsetzung ist, wird man dem integrativen Versprechen dieses Konzepts und mehr noch dem Versprechen misstrauen, dass sozial Schwache auf dem Wege der Gerechtigkeit ihre Interessen stärken und fehlende bzw. unzureichende Machtressourcen kompensieren können. Das eingangs angesprochene Hintergrundwissen holt uns wieder ein – und wir vermuten: In politischen Aushandlungsprozessen werden diejenigen, die etwa durch Geld oder Beziehungen größere Macht mobilisieren können, ihren Machtvorsprung – und nicht zuletzt ihr Geld oder ihre Beziehungen – dazu nutzen, Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Weil sie nicht nur gute Gründe, sondern auch ihre Machtressourcen bei der Rechtfertigung eigener als allgemeiner Interessen einsetzen können, wird die auf diesem Wege durchgesetzte Gerechtigkeit von vorgelagerten sozialen Ungleichheiten eingenommen. Die dem Konzept „Gerechtigkeit“ zugrundeliegende Rechtfertigungspraxis ist Wirkungsfeld genau dieser sozialen Ungleichheiten und der daraus resultierenden Ungleichverteilung von politischer Macht.

      Die Okkupation der „Gerechtigkeit“ für starke Interessen drückt sich auch in der paternalistischen Vertretung von schwachen Interessen aus. Politische Akteure mit hinreichend großer Deutungsmacht deuten die Interessen derjenigen, die – weil ohne ausreichende Machtressourcen – ihre eigenen Interessen nicht wirksam verallgemeinern, deshalb eigene Vorstellungen und Forderungen nicht als gerecht erweisen, sich zumindest nicht erfolgreich gegen ihre paternalistische Vereinnahmung wehren können Auf diesem Weg werden schwache Interessen in den als allgemein behaupteten Interessen eingefügt und diese mit Hinweis gerade auf das Wohlergehen der paternalistisch Vertretenen verallgemeinert – und zwar ohne deren Zustimmung, gegebenenfalls sogar gegen deren ausdrücklichen Widerspruch. Eine solche Praxis der „Gerechtigkeit“ besiegelt Ungleichheiten gleich in zweifacher Weise: Akteure mit entsprechend großer Deutungsmacht und hinreichender öffentlicher Reputation verwehren denjenigen, die sich gegen die paternalistische Vereinnahmung ihrer Interessen nicht wehren können, die Möglichkeit, eigene Interessen in vergleichbarer Weise als gerecht zu erweisen; und sie schließen diese darüber hinaus aus dem Kreis derer aus, denen gegenüber sie die von ihnen behauptete Gerechtigkeit rechtfertigen müssen und auf deren Zustimmung sie angewiesen sind, soll ihre Rechtfertigung als ausreichend gelten.

      Reflektierendes Urteilsvermögen

      „Gerechtigkeit“ entsteht durch Urteilen. Mit ›urteilen‹ wird ein Denk- und Sprachakt bezeichnet, bei dem – für gewöhnlich – etwas Besonderes, hier etwa besondere Lebenslagen oder Situationen, unter eine Allgemeinheit, hier etwa allgemeine Interessen oder die Ordnung dieser und aller ähnlichen Situationen, gebracht wird. Zumindest wird bei Immanuel Kant Urteilskraft in diesem Sinne als dasjenige Vermögen ausgewiesen, „unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe, oder nicht“ (KrV 171), bzw. „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KdU B XXV). Wenn auch nicht auf dem Feld der Politischen Philosophie, sondern als Ergänzung der theoretischen und der praktischen Vernunft unterschied Kant zwischen dem bestimmenden Urteilen, bei dem das Allgemeine bekannt und gegeben ist und das Besondere unter dieses Allgemeine subsumiert wird, und dem reflektierenden Urteilen, bei dem das Besondere gegeben und davon ausgehend das Allgemeine erhoben wird (KdU B XXVI). Was das moralische Urteilen angeht, führte Kant auf die Spur des bestimmenden Urteilens, sofern das Moralgesetz für ihn als Faktum der praktischen Vernunft gegeben, damit dem Besonderen und also dem Urteilen immer schon vorgegeben ist. Ohne sie deshalb von den Ansprüchen der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit zu dispensieren, sollte man bei „Gerechtigkeit“ hingegen weniger auf das bestimmende Urteilen, stattdessen vielmehr auf das reflektierende Urteilen setzen. Zumindest wenn entsprechende öffentliche Diskurse nicht übermäßig vermachtet sind und mindestens hinreichend für unterschiedliche Interessengruppen offen sind, liegen allgemeine Interesse den Urteilsakten, also der Behauptung von Gerechtigkeitsvorstellungen und deren Rechtfertigung mit guten Gründen, nicht voraus, sondern sie entstehen in genau diesen Urteilsakten – und bestehen daher auch erst als deren Ergebnisse. Möglicherweise hatte Hannah Arendt genau Urteilskraft der reflektierenden Art als „das politischste der mentalen Vermögen des Menschen“ vor Augen, das „besteht in der Fähigkeit, Einzelnes (›particulars‹) zu beurteilen, ohne es unter solche allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie zu Gewohnheiten werden, die durch andere Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden“ (Arendt 1979: 36).

      Dass man bei „Gerechtigkeit“ vor allem auf reflektierende Urteilen setzt, gilt zumal dann, wenn man an dem Urteilsvermögen derer interessiert ist, die in durch ungleiche Machtressourcen geprägten und anderweitig durch soziale Ungleichheiten bestimmten Verhältnissen eine untere Stellung einnehmen. Das, was Kant das bestimmende Urteil nannte, würde deren besondere Interessen und deren besondere Lebenslagen unter eine vorgegebene Allgemeinheit bringen. Diese ist vermutlich eine der öffentlich ausgehandelten und politisch wirksamen Gerechtigkeiten, auf die Subalterne gerade keinen Einfluss nehmen konnten. In einem bestimmenden Urteilsvermögen würde also der Ausschluss von denen „da unten“ aus den politisch wirksamen Gerechtigkeiten lediglich vollzogen und diese Gerechtigkeiten in das Urteilen der so Ausgeschlossenen vermittelt. Solch bestimmendes Urteilen wird es „da unten“ geben, etwa wenn sich diejenigen, die in dem Gefüge der sozialen Ungleichheiten an den unteren Rand gedrängt werden, genau die Gerechtigkeitsvorstellungen annehmen, mit denen dieses Gefüge legitimiert wird – und vielleicht gerade so ihre Benachteiligung „aushalten“.

      Ist man aber nicht nur an dem Ausbleiben von Protest und Widerstand, sondern inhaltlich an den besonderen Urteilen derer „da unten“ interessiert, dann wird man auf deren reflektierendes Urteilsvermögen setzen – auf ihr Vermögen, ihre besonderen Lebenslagen und ihre Interessen unter den Anspruch der Allgemeinheit und Verallgemeinerung zu bringen und dabei die mit „Gerechtigkeit“ ausgesagte Allgemeinheit und intendierte Verallgemeinerung zu erzeugen. Nur in solch reflektierendem Urteilen entsteht eine „Gerechtigkeit von unten“ – in Differenz zu öffentlich ausgehandelten und politisch wirksamen Gerechtigkeiten und möglicherweise auch in Konfrontation zu diesen.

      Ausschluss subalternes Urteilsvermögen

      Wer bei denen „da unten“ mit reflektierendem Urteilsvermögen und im Ergebnis mit so etwas wie „Gerechtigkeiten von unten“ rechnet, der muss erklären können, warum dieses Urteilsvermögen in öffentlichen Diskursen ungehört bleibt und deshalb subaltern ist, warum „Gerechtigkeit von unten“ öffentlich nicht berücksichtigt wird und eben deshalb eine Gerechtigkeit „ … von unten“ ist. Nimmt man „Gerechtigkeit“ als eine umkämpfte Ressource in Positions- und Distinktionskämpfen, erklärt sich dies vor allem mit Bezug auf diejenigen, die in der Nutzung der Gerechtigkeit für ihre Zwecke erfolgreicher als diejenigen „da unten“ sind, deren Erfolg sich möglicherweise sogar der Entwertung des subalternen Urteilsvermögens verdankt. Erklärungen lassen sich aber auch mit Bezug auf das Urteilsvermögen derer „da unten“ und deren Urteilspraxis suchen (Honneth 2000).

      Eine erste Erklärung zielt darauf, dass Urteilsakte immer ihre Anlässe haben: „Gerechtigkeit“ entsteht durch deliberativen und i.d.S. kollektiven Vollzug von Urteilsvermögen im öffentlichen Raum: Die Lebensverhältnisse in einer politisch konstituierten Gemeinschaft werden bewertet und eigene Interessen behauptet und mit den Bewertungen und Interessen anderer abgeglichen, daraus Forderungen für die sozialen Ordnungen gezogen. Die Anlässe, entsprechendes Urteilsvermögen öffentlich zu vollziehen, sind allerdings ungleich verteilt – und zwar proportional zu den Vorteilen, die einzelne und soziale Gruppen aus den Ordnungen ihrer politischen Gemeinschaft ziehen. Mit den Vorteilen wächst der Legitimierungsdruck und damit der Druck, in den politischen Auseinandersetzungen den Weg der Gerechtigkeit zu beschreiten und dazu eigene Interessen zu rechtfertigen. Weil ohne diese Vorteile geraten die „da unten“ nicht unter vergleichbaren Legitimationsdruck – und haben deswegen seltener Anlass, eigene Interessen als allgemeine Interessen auszuweisen.

      Mehr noch: Sofern sie Leistungen der sozialen Fürsorge oder Sozialtransfers beziehen – und darin ihren Vorteil „haben“, geraten sie unter den gegensätzlichen Druck, die ihre Unterstützung legitimierenden Gerechtigkeitsvorstellungen loyal zu bedienen und sich selbst auf diese Vorstellungen hin und in deren Rahmen zu rechtfertigen. Sich den jeweils