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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Rande der sozialen Ungleichheit nicht, zumindest nicht richtig statt.

      Diese Ignoranz gegenüber dem politischen Urteilsvermögen derer „da unten“ besteht zumeist auch dort, wo in den unterschiedlichen Wissenschaftsdiziplinen Ethik betrieben und wissenschaftlich-elaboriert über Gerechtigkeit nachgedacht wird. Sofern dabei Fragen der sozialen Ungleichheit im Fokus stehen, sind die, die an deren unteren Rändern leben müssen, bestenfalls die intendierten Profiteure entsprechender Bemühungen, möglicherweise auch die „Mandanten“, in deren ungegebenem Mandat diese Bemühungen vollzogen werden. Sie sind aber in der Regel nicht die „ersten Denker“ der Gerechtigkeit, die in ihrem Namen wissenschaftlich gedacht wird. Mehr noch zeigt sich diese Ignoranz, wenn bei all den dringlichen Themen die damit zusammenhängenden Fragen der sozialen Ungleichheit erst gar nicht in den Fokus geraten, – und dann erst recht nicht auf die Stimme derer am unteren Rand gehört wird.

      Dagegen hat man sich den Sozialwissenschaften – u.a. im Rückgriff auf Arbeiten von Judith Shklar, Barrington Moore oder Axel Honneth – um das Urteilsvermögen derer „da unten“ bemüht (vgl. Rieger-Ladich 2015). Zum Beispiel erforschte François Dubet (2008) die Expertise von Beschäftigten über die Ungerechtigkeiten an ihren Arbeitsplätzen. Den Einfluss von biografischen Erfahrungen auf das Urteilsvermögen der erfahrenen Individuen hat Sylvia Terpe (2009) erkundet und dabei einige Erfahrungen als Ressource, andere hingegen als Barriere der Gerechtigkeit entdeckt. In diesen Untersuchungen werden Menschen, die am unteren Rande der sozialen Ungleichheiten bestehen, nicht zu Heroen der Gerechtigkeit stilisiert. Jedoch wird ihr Urteilsvermögen ob der Ungerechtigkeit ihrer Lebensverhältnisse aufgeklärt – und ihnen dadurch ein solches Urteilsvermögen ausdrücklich zugestanden. Um das Urteilsvermögen der Subalternen in den Pariser Banlieues zu aktivieren, haben Pierre Bourdieu und seine KollegInnen geeignete Gesprächskonstellationen geschaffen – und die dadurch provozierten Erzählungen ihres alltäglichen Leidens und deren Beurteilung in „Das Elend der Welt“ (Bourdieu 1997) dokumentiert.

      Urteilen die „da unten“ über ihre Lebensbedingungen und ihre Positionen am unteren Rande und wird dieses Urteilen mit sozialwissenschaftlicher Unterstützung manifest, dann werden auch wissenschaftlich betriebene Ethiken auf entsprechende Nachweise dieses subalternen Urteilsvermögens verwiesen. Die Ignoranz in diesen Ethiken geht nämlich nur solange durch, als das Ignorierte nicht bewusst und die Ignoranz nicht auffällig wird. Das gilt zumal für die im Rahmen der christlichen Theologien betriebenen Ethiken, so diese unter dem Diktum der durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie durchgesetzten „Option für die Armen“ stehen. Mit dieser Option werden die „Armen“, wer auch immer damit gemeint sind, nicht nur als Adressaten eines parteiischen Gottes ausgezeichnet, sondern zugleich als die ersten TheologInnen des ebenso parteiischen Glaubens an diesen Gott. Was es aber heißt, dass die „Armen“ die ersten „Denker“ einer unter der „Option für die Armen“ stehenden Ethik ist, darauf hat man bislang keine belastbaren Antworten geben können, – wenn man sich denn überhaupt entsprechende Fragen gestellt hat.

      Gerechtigkeit als politische Macht

      Einstellungen und Überzeugungen und andere Dispositionen des Denkens, Sprechens Fühlen und Wollens, damit auch das im Konzept „Gerechtigkeit“ zum Ausdruck kommende Urteilen reflektieren immer und mit Notwendigkeit die jeweils eigene Position im sozialen Raum. Mehr noch: Einstellungen und Überzeugungen und eben damit auch „Gerechtigkeit“ benutzen Akteure in ihren – um es mit Pierre Bourdieu zu sagen – Positions- und Distinktionskämpfen (Bourdieu 1976). Mit diesem sozialwissenschaftlichen Hintergrundwissen hält man „Gerechtigkeit“ für eine ungleich verteilte Ressource in einem durch Ungleichheiten bestimmten sozialen Raum – mit Ungleichheit schaffenden Wirkungen. Der Wert der „Gerechtigkeit“ ist davon abhängt, ob und in welchem Maß man sie für sich und Seinesgleichen, für die eigenen Interessen mobilisieren und gegen die Interessenlagen anderer okkupieren kann. Diese Sicht auf die „Gerechtigkeit“ ist äußerst plausibel, hat aber einen entscheidenden Nachteil: Man beraubt der „Gerechtigkeit“ ihre inklusiven Ansprüche, der sie ihren politischen Nutzen und damit auch den jeweils eigenen Nutzen in Positions- und Distinktionskämpfen verdankt. So entzaubert, kann „Gerechtigkeit“ nicht mehr sinnvoll gedacht werden, – und man kann sie politisch nur noch dann nutzen, wenn man verschweigt, was man über sie denkt, und zugleich hofft, dass hinreichend viele der anderen nicht ahnen, dass man mit „Gerechtigkeit“ nichts Sinnvolles denkt.

      Trotz dieser und manch anderer Entzauberungen ist das Konzept „Gerechtigkeit“ für die politische Semantik zumindest der westlichen Gesellschaften bis heute konstitutiv. Mit langen Wurzeln vor allem in die griechische Antike hinein lassen sich – zumal in demokratischen Gesellschaften – Ordnungen sozialer Verhältnisse politisch nicht aushandeln, ohne dass die daran beteiligten Akteure ihre Vorstellungen und Forderungen mit Gerechtigkeitsvorstellungen qualifizieren und die von ihnen intendierten Ordnungen als gerecht behaupten. Dazu transzendieren sie eigene Interessenlagen, ohne diese zu leugnen, und weisen sie als ein – in welchem Verständnis auch immer – allgemeines Interesse aus. Dadurch, dass sie sich in Übereinstimmung mit allgemeinen Interessen behaupten, suchen sie Macht zu erzielen, nämlich ihre Chancen zu vergrößern, die eigenen Vorstellungen und Forderungen in den politischen Aushandlungsprozessen auch gegen Widerspruch durchzusetzen. Neben anderen Ressourcen ist „Gerechtigkeit“ damit eine besondere, dabei eigensinnige und anspruchsvolle Ressource der Interessenvertretung und -durchsetzung.

      Auch wenn man „Gerechtigkeit“ nicht mit Moral und Menschenrechten, also nicht mit den darin ausgesagten unbedingten und allgemeinen Rechten und Pflichten gleichsetzt, wenn man stattdessen auch Werte und ähnlich partikulare und kontextuelle Überzeugungen und Einstellungen sowie Klugheitserwägungen als Quellen der Gerechtigkeit anerkennt, erwarten politische Akteure – und mit diesen auch Gerechtigkeitstheorien in der Politischen Philosophie, in den Theologien und anderen Disziplinen – von entsprechenden Urteilen erstens deren Allgemeinheit und zweitens deren Allgemeingültigkeit: Die jeweils als gerecht behauptete Ordnung von sozialen Verhältnissen ist nur dann gerecht, wenn sie nicht nur im Interesse eines Teils der davon Betroffenen, sondern in einem wie auch immer qualifizierten gemeinsamen Interesse aller davon Betroffenen und i.d.S. in einem allgemeinen Interesse ist. Diesem Anspruch genügt eine Gerechtigkeitsvorstellung aber nicht schon durch deren bloße Behauptung; „gerecht“ sind Gerechtigkeitsvorstellungen erst dann, wenn die Allgemeinheit, die behauptet wird, auch als gültig erwiesen werden kann. Dies gelingt durch Rechtfertigung der behaupteten allgemeinen Interessen mit guten Gründen – und zwar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die zu der Allgemeinheit gehören, für die eine bestimmte Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse als gerecht behauptet wird, wenn nicht sogar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die von dieser Ordnung betroffen sind, selbst wenn sie dieser Allgemeinheit nicht angehören.

      Mit diesen beiden Ansprüchen verspricht das Konzept „Gerechtigkeit“ die größtmögliche Inklusion der die jeweils unterstellte Allgemeinheit ausmachenden Menschen und – darüber hinaus – sogar von außenhalb stehenden „Dritten“. Versprochen wird nämlich, dass bei der Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse ihrer aller Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden. Gleichberechtigt anerkannt werden dann auch die Interessen derjenigen, die wegen fehlender oder zumindest geringerer Machtressourcen ihre Interessen ansonsten nicht gleichberechtigt verfolgen können und in diesem Sinne „schwache Interessen“ (Willems u.a. 2000, 39–110) haben. Deswegen gilt „Gerechtigkeit“ als die privilegierte Machtressource für die, die eine subalterne Stellung in von durch Machtungleichheiten geprägten Verhältnissen einnehmen. Obgleich ohne Geld und Einfluss, ohne Ansehen, Ämter und Beziehungen können sie ihre Interessen öffentlich als nicht nur eigene Interessen ausweisen und können auf diesem Weg ihre Interessen gegenüber den Interessen derer, die Geld und Einfluss, Ansehen, Ämter und Beziehungen „haben“, aufwerten. So können sie gegenüber jenen, womöglich sogar mit Unterstützung aus deren Kreisen, Macht aufbauen. Womöglich lassen sich gerade ihre Interessen besonders gut unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit als allgemeine Interessen ausweisen. Denn – zumindest prima facie – stellen ihre besonderen Lebenslagen und ihre sozialen Positionen eine Benachteiligung gegenüber anderen und darin eine Verletzung allgemeiner Interessen dar; so aber liegt deren Verbesserung – zumindest prima facie