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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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entschieden worden ist, also genauer dort, wo die Nichtbeachtung der Menschenrechte mit den Interessen der jeweiligen Realpolitik zusammenfallen. Ethik und ethische Reflexionen existieren jedoch nicht in einem abstrakt-theoretischen Raum, sondern diese sind in gesellschaftliche und politische Ordnungsmuster eingebunden, so dass zwingend über das Verhältnis zwischen dem Ethischen und der Politik/dem Politischen nachgedacht werden muss (siehe Reese-Schäfer 1997).

      3. Die Politik und/oder das Politische?

      Eine normative Ausrichtung der Politik (und des Politikverständnisses), so wie es beispielsweise die liberalistisch-deliberative Theorietradition impliziert, kann den Wert der Unterscheidung zwischen der „Politik“ und dem „Politischen“ nicht erkennen (siehe Bedorf 2010). Ohne Politik immer schon mit polizeilicher Ordnung zu identifizieren, wie es an manchen Stellen beispielsweise das Werk des französischen Philosophen Jacques Rancière nahelegt, steht Politik doch für die parlamentarisch organisierte Form des demokratischen Regierens (Rancière 2002). Das Politische dagegen verkörpert die „Logik des Widerstreits“, also gerade die Infragestellung der politischen Ordnung – und wird dadurch zu einer notwendigen Korrekturmöglichkeit derselben:

      Das Politische [le politique] ist dieser dritte Raum des Streits, ein unbestimmter und stets sich wandelnder Punkt, an dem Polizei und Politik [la politique] zusammentreffen. Der Prozess der Politik beginnt mit der Identifikation eines Unrechts [le tort], einem fundamentalen Disput über unterschiedliche Kalkulationen des Gemeinschaftlichen.“ (Tanke 2011: 51; Übersetzung von Thomas Claviez).

      Dieses so verstandene Politische ereignet sich (wenn überhaupt!) auf dem Gebiet der Politik immer nur im jeweils konkreten, historischen Fall (beschreibbar als Praxis), der darüber entscheiden muss, was überhaupt das Gemeinsame ausmacht und wer in diesem Zusammenhang etwas zu sagen und zu entscheiden hat. Mit einem solchen konzeptionellen Verständnis des Politischen verliert dieses seine gemeinhin angenommene Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zur liberalen respektive diskursethisch beeinflussten politischen Theorietradition (allen voran Habermas) ist Rancières Begriff des Politischen einer des Konfliktes, der Unstimmigkeit, ja des Polemischen. Nicht die kommunikative Verständigung (wenn auch nur als kontrafaktisch angenommener Idealfall), sondern das Streithandeln bestimmt das Geschehen im Raum des Politischen. Politisches Handeln und Kommunizieren gehen nicht einfach in einem rationalen (Verfahrens-)Diskurs auf, den es „nur noch“ institutionell zu etablieren gilt. Erforderlich wird vielmehr in diesem Verständnis, welches Politik zugleich als Handwerk und Kunst begreift, eine Verschränkung von Argument und Metapher; dem politischen Handeln und der Kommunikation eignet demzufolge eine poetisch-polemologische Dimension. Mit Rancière können wir aber noch etwas Zusätzliches akzentuieren: Im politischen Konflikt bemühen sich mindestens zwei Parteien um die Herstellung einer gemeinsamen Situation und um deren Repräsentation. Genau dort, wo ein Teil der Menschen aus dieser Situation ausgeschlossen ist, muss insofern dieses Gemeinsame/Allgemeine – an das Jean-Luc Nancy mit Jacques Derrida so oft erinnert – als zunehmend prekär beschrieben werden, zumal unter globalisierten Bedingungen (Nancy 2004: 59). In drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen soll dieses Verständnis überprüft und etwas genauer ausgeführt werden.

      4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen

      4.1 Das Ethische und das Politische im Modus der Versöhnung

      Ethische Reflexionen haben sich weitestgehend geräuschlos in der Sphäre der Politik in unseren westlichen Gesellschaften etabliert.1 Die in der Sozial- und Politischen Philosophie so gelagerten Ansätze, beispielsweise die von Jürgen Habermas, John Rawls und Michael Walzer, fokussieren auf eine Verschränkung von Ethik und Politik in der normativen Ordnung der Gesellschaft.2 Im Hinblick auf Konstellationen des Politischen und des Ethischen erweisen sich die Menschenrechte und der Glaube an die Weltbürger_innen_rechte, unter Einschluss der Solidarität als dem Anderen der Gerechtigkeit (Habermas) sowie die multikulturell ausgerichtete Zivilgesellschaft (Walzer), als normative Fluchtpunkte. Allerdings fokussieren diese Ansätze eher binnengesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen und verharren dabei im Bereich der Politik. Verwaltet wird das proklamierte differenzempfindliche Universelle von einer (Diskurs-)Polizei und einer Gemeinschaft, die über die weltweite Einhaltung der Menschenrechte wachen. In diesem Kontext möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie eines derartigen zeitgenössischen Verständnisses von Politik und Ethik lenken. So gibt es auf der einen Seite die wohlmeinenden Bemühungen und Begründungen von Idealisten, die beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich jedoch nur die Bürger_innen der zivilisiertesten Länder erfreuen, und auf der anderen Seite existiert die Situation der Entrechteten (beispielsweise der Flüchtlinge), die sich ebenso beharrlich über die Jahrzehnte verschlechtert hat. Ohne die Notwendigkeit des Beharrens auf Menschenrechte bestreiten zu wollen, existiert die reale Gefahr einer lediglich abstrakten Begründung und Proklamation der Menschenrechte, was nicht selten zu einem reinen Verkündigungspathos verkommt. Welche Rolle spielt dabei genauer die Ethik? Sie gerät sehr schnell zu einer Alibiveranstaltung beziehungsweise zu einer Unterstützungsgehilfin der politischen Ordnung der Herrschenden. So mutiert aber die bereits angeführte „Rückkehr der Ethik“ zu einer Versöhnung von Ethik (Moral) und Politischem, was „heute den wesentlichen Einsatz der vorherrschenden, sich auf Rawls oder Habermas berufenden politischen Reflexion darstellt. [Dies wiederum] ist als Versuch der demokratischen Ordnung zu verstehen, diesen ihr innewohnenden Mangel zu verneinen oder sich seiner imaginär zu entledigen“ (Šumič 1997: 233). Stattdessen rückt das (internationale) Recht in den Fokus dieser Form der politischen Theorie/Philosophie, das gleichsam für eine Einhegung der potenziellen Konflikte zwischen Ethischem und Politischem sorgen soll.3

      4.2 Das Politische und das Ethische als radikal-unauflösbarer Konflikt

      Die in der machiavellistischen Tradition stehenden Ansätze zeichnen sich häufig dadurch aus, dass diese den Anteil des Ethischen für gering, unwichtig oder sogar für schädlich halten.1 Teile der sogenannten Postmoderne haben diese – neben Machiavelli an Nietzsche geschulte Auffassung – vertreten, auch deshalb, weil der Unterschied zwischen Ethik, Moral und Politik meines Erachtens nicht immer klar genug gezogen worden ist. Lange Zeit hat man sogar „der Postmoderne“ insgesamt das Fehlen jeglicher ethischen Dimension ihres Denkens attestiert.2 Aber auch Denker wie der französische Philosoph Jacques Rancière verweigern den Anteil des Ethischen, obwohl dessen Werk insgeheim von einer Ethik tief durchzogen ist (siehe Wetzel/Claviez 2016: 141ff.). Noch radikaler vertritt Jean-François Lyotard einen unauflösbaren Konflikt zwischen dem Ethischen und dem Politischen, und zwar im Namen des Singulären und des Heterogenen (Lyotard 1977). Diese Problematik entfaltet Lyotard vor allem in seinem Werk „Der Widerstreit“ (1989: 11ff.). Mit Blick auf Habermas und dessen Konsensorientierung bestreitet Lyotard vehement die Artikulationsmöglichkeit eines jedweden Konsenses überhaupt. Für ihn lässt sich die Unmöglichkeit des Konsenses nur durch die Regeln der die öffentliche Kommunikation brechenden Idiome aussprechen. Dadurch wird aber auch jeder gemeinsame Sinn radikal in Frage gestellt.

      Im Gegensatz zur Habermasschen Voraussetzung einer Versöhnung von Ethik und Politischem hält Lyotard am radikalen Zwiespalt zwischen beiden Instanzen fest. Mehr noch, insofern der Ethik die Aufgabe zufällt, Auseinandersetzungen und Ungerechtigkeiten, kurz, jenes aufzufinden, was der hegemonistische Diskurs verleugnet, marginalisiert und ausschließt, kommt es notwendig dazu, daß der Eingriff der Ethik ins Politische Auseinandersetzungen verursacht. (Šumič 1997: 246)

      Dabei besteht aber die Gefahr, den Blick für das Gemeinsame und das für alle Geltende zu verlieren. Mit anderen Worten: Bei einer starken (Über-)Betonung des Besonderen, des Einzigartigen sind so etwas wie „kontextuelle Universalismen“3 dann überhaupt nicht mehr denkbar.

      4.3 Das Ethische und das Politische: ein produktiver Widerstreit

      In Anlehnung an Jelica Šumič und in gewisser Weise auch inspiriert durch die Arbeiten des psychoanalytischen Soziologen Thanos Lipowatz (1994, 1998)1 möchte ich dafür plädieren, das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen im Sinne eines produktiven Widerstreits zu fassen, der letzten Endes immer wieder neu ausgehandelt werden muss.