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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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nehmen (ebd.: 66). Das Einbringen moralischer Gesichtspunkte in die Politik hat nämlich selbst politische Folgen, insofern es einerseits in der Regel nur Interessen maskiert, andererseits die Gewichte im Austarieren der Interessen verschiebt. Die Verantwortung des Politikers besteht nun gegenüber der Sache und gegenüber der Zukunft, und um dieser Verantwortung willen muss er die rückwärtsgewandte Moral (à la Gesinnungsethik) außen vor lassen und mit allen Interessenverfolgungsmethoden rechnen, um so weit wie möglich seiner „Sache“ eine Zukunft zu sichern (ebd.: 71). Damit konzentriert sich das ethische Kernproblem der Politik darauf, welche „Mittel“ (noch) zu rechtfertigen sind, um die „Sache“ wirkungsvoll zu verfolgen, bzw. welche Nebeneffekte akzeptabel sind, um das Ziel zu erreichen, und es macht den Verantwortungsethiker aus, dass er, anders als der Gesinnungsethiker, diese Frage überhaupt zulässt. Freilich wird man einwenden, dass dies nicht unwesentlich davon abhängt, worin eigentlich die „Sache“ besteht, denn nur für entsprechend hochrangige Ziele sind bestimmte Nachteile nur in Kauf zu nehmen, und es ist irgendeine Norm (ein Maßstab) erforderlich, an der die Hochrangigkeit gezeigt wird. Weber beantwortet diese Fragen nicht; vielleicht hielt er sie nicht in einer Weise für beantwortbar, die auf allgemeinen Prinzipien oder Abwägungsregeln beruht. Mehrere Aussagen weisen aber darauf hin, dass er darin ein schwerwiegendes Problem erkannte, das gewissermaßen die klare Zuordnung zu Gesinnungs- oder Verantwortungsperspektive wieder übersteigt. Er ist sich nämlich darüber im Klaren, dass derjenige, der sich Politik zum Beruf macht, damit der moralischen Korrumpierbarkeit aussetzt, die sein Abwägen verantwortungslos werden lässt. Daher muss der Politiker Verantwortung für sich selbst übernehmen:

      Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein. Er lässt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. (ebd.: 73)

      Politik gefährdet gewissermaßen das „Heil der Seele“ – sie belastet das Gewissen, weil sie zu Kompromissen nötigt, von denen nicht immer klar ist, ob sie von der „Sache“ her tatsächlich noch gerechtfertigt sind. Das ist für Weber übrigens ein Risiko, das sowohl gesinnungs- als auch verantwortungsethisch gegeben ist; der Verantwortungsethiker macht sich dieses Risiko allerdings klar, der Gesinnungsethiker wähnt sich dagegen gefeit (ebd.: 79). Am Ende der Abwägungen ist aber auch der Verantwortungsethiker auf die „Gesinnung“ verwiesen – wer nicht verantwortungslos handeln will und vom Diktator unterscheidbar bleiben möchte, muss eine Grenze kennen, an der jedes Abwägen halt macht. Weber formuliert es wieder in religiöser Sprache: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich“ – diese Situation muss „für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen den echten Menschen ausmachen, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann.“ (ebd.: 81). Wann aber „gesinnungsethisch“ und wann „verantwortungsethisch“ gehandelt werden soll, dafür gibt es Weber zufolge keine Regel – wieder eine Frage der persönlichen Verantwortung.

      Webers ethisches Panorama ist damit zwar unter ethischen Gesichtspunkten nicht voll ausgestaltet, aber doch vielgestaltig. Es ist unterbestimmt, wo es um die Qualität der „Sache“ geht, die den Politiker bewegt; schließlich ist es eine grundlegende ethische Frage, für welche Ziele man sich einsetzt. Die Frage, wofür es sich lohnt, politisch zu arbeiten, kann nicht darauf reduziert werden, worin man die eigenen Interessen erkennt oder was politisch am ehesten Erfolg verspricht. Außerdem ist es keine rein individuelle Frage, die dem eigenen Lebensentwurf zuzurechnen ist; es gibt auch politische Ziele, die ethisch illegitim sind. Weber scheint sich dessen dort bewusst zu sein, wo er auf den Persönlichkeitswandel hinweist, dem sich der Politiker aussetzt und den er verantworten muss. Schließlich muss auch die politische Kompromissfähigkeit Grenzen haben, wenn sie nicht prinzipienlos und darin unverantwortlich sein soll. Wem gegenüber besteht aber die Verantwortung, sich nicht korrumpieren zu lassen und verantwortlich Kompromisse zu schließen? Weder das Persönlichkeitsethos noch die Legitimität der Kompromissfähigkeit können ja aus der „Sache“ gefolgert werden, der sich der Politiker verpflichtet fühlt. Offenbar muss der normative Bezugspunkt der Verantwortungsethik stärker expliziert werden – da wird dann der Gegensatz zur gesinnungsethischen Perspektive obsolet.

      Was folgt daraus für die migrationsethische Debatte? Webers Überlegungen zum Ethos des Berufspolitikers nehmen ernst, dass Politiker in einem Betrieb sich zu behaupten versuchen, der seinen eigenen Gesetzen folgt und sich wesentlich um den Zugang zu, den Einsatz und den Erhalt von zwangsbewehrter Macht dreht. Sein Beharren auf der – wie gezeigt recht differenzierten – Verantwortungsethik sucht gerade das Spezifikum eines politischen Ethos zu erfassen, das als Rollenethos des Politikers selbst politischen Charakter hat. Dem gegenüber ist zu unterstreichen, dass der gewöhnliche Intellektuelle oder der akademische Ethiker, der nicht in den politischen Betrieb und in eine Parteiorganisation eingebunden ist, nicht in der Rolle des Politikers spricht, sondern – obzwar nicht unpolitisch – an einem öffentlichen Diskurs teilnimmt, vor dessen Hintergrund erst das politische Kompromissfinden und Entscheidungsfinden stattfindet. Dieser Diskursprozess findet seinerseits nur dann in ethisch verantwortbarer Weise statt, wenn alle ethischen Dimensionen der Problematik vertreten und erörtert werden. Den politischen Kompromiss kann eine ethische Diskussion nicht vorwegnehmen; sie muss Sorge tragen, dass alle relevanten Argumente – auch jene, die in der Politik unbeliebt sind, weil sie politischen Mehraufwand verursachen – vorkommen und so weit als möglich Gehör finden. Dafür muss Ethik aber Ethik bleiben und darf sich nicht in die Rolle des Politikers hineinphantasieren. Es ist gar nicht zu erkennen, wieso es unpolitisch wäre oder unverantwortlich sein sollte, menschenrechtliche Ansprüche oder ethische Begrenzungen nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche zu vertreten, wie jene Autoren zu denken scheinen, die ihre Position als „verantwortungsethisch“ charakterisieren. Viel eher wird eine Diskussion benötigt, die in einem übergreifenden Sinne verantwortungsethisch ist – wie sie bei Weber wenigstens als Problembewusstsein zu erkennen ist – und die „gesinnungsethische“ Aspekte einschließt. Dazu gehört wesentlich die Frage nach der Verantwortungsinstanz, die bei der Migrationsproblematik ja offenkundig nicht primär im einzelstaatlichen Gemeinwohlhorizont zu lokalisieren ist. Das Bestehen von Staaten, denen gegenüber Individuen mit ihren Wünschen und Interessen auftreten, ist ja gerade Teil der Problembeschreibung und kann nicht einseitig die Perspektive der Beurteilung formulieren. Anders gesagt: Die migrationsethische Debatte muss sich einerseits davor hüten, unreflektiert eine Position einzunehmen, die sich mit dem „Wir“ der Aufnahmegesellschaft identifiziert und in der Torhüter-Rolle überlegt, was (und wer) „uns“ zuzumuten ist. Dieses prinzipielle Machtgefälle zwischen dem Staat und den ankommenden Individuen wird andererseits zwar korrigiert, aber nicht überwunden, wenn die migrationsethische Positionierung anwaltschaftlich zugunsten der Migrierenden erfolgt. Advokatorisches Eintreten für die wenig artikulationsfähigen Rechte der Flüchtenden und Zukunftsuchenden ist in der Migrationsdebatte bitter nötig (und darin zutiefst politisch), aber ändert nichts daran, dass das grundlegende Setting – hier der mächtige Staat, dort das ohnmächtige Individuum – nicht in Frage gestellt wird. Christoph Menke weist darauf hin, dass mit dem Konflikt zwischen dem Individuum als Inhaber subjektiver Rechte und dem Staat als Machtkollektiv die Problemstruktur perpetuiert wird – das Verhältnis „zwischen einem Wir und einem Du (oder einem Ihr und einem Ich), das nicht ein Mitglied ist“ (Menke 2016). Die ethische Debatte müsste sich darauf konzentrieren zu erörtern, wie eine gerechte Anerkennung von Menschen als politischen Wesen zu denken und zu realisieren ist, ohne am menschenrechtlichen Dilemma stecken zu bleiben, dass Migranten „eigentlich“ Teilhaberechte haben, diese zu ihrer Realisierung aber das erfordern, was ihnen gerade abgeht, nämlich Teil zu sein. Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für eine solche umfassendere Wahrnehmung der ethischen Problematik nicht geeignet; da sie auch diesseits davon irreführend ist, sollte auch auf ihren bloß rhetorischen Gebrauch verzichtet werden.

      Literatur

      Anselm, Reiner (2016). Ethik ohne Grenzen? Zeitschrift für evangelische Ethik 60:3, 163–167.

      Collier, Paul (2014). Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler.