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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise. Freiburg i. Br.: Herder, 66–81.

      Menke, Christoph (2016). Zurück zu Hannah Arendt – die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte. Merkur 70:7, Heft 806, 49–58.

      Ott, Konrad (2016). Zuwanderung und Moral. Stuttgart: Reclam.

      Weber, Max (1992). Politik als Beruf [1919]. Mit einem Nachwort von Rolf Dahrendorf. Stuttgart: Reclam.

      Werner, Micha H. (2011). Verantwortung. In: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.) Handbuch Ethik. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, 541–548.

      Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer?

      Zur Aktualität von Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit

      Alexander Hauschild

      Ein kleines sozio-politisches bzw. ethisches ‘Rätsel’ zu Beginn: Am 8. März 2014 verschwindet eine Maschine der Malaysia Airlines, Flugnummer MH370, mit 239 Menschen an Bord über dem indischen Ozean vom Radar; die mediale Berichterstattung über diese Tragödie ist immens und die Suche nach dem verschollenen Flugzeug, an der sich 26 Nationalstaaten beteiligen – entweder da sich ‘ihre’ Staatsbürger_innen unter o.g. Menschen befanden, oder da ‘ihr’ Staatsgebiet von der Suchaktion betroffen ist –, avanciert zur teuersten der Luftfahrgeschichte (siehe Reidy 2015b). Knappe vier Monate später, am 28. Juni 2014, verschwindet ein Schiff mit 243 Menschen an Bord im Mittelmeer; mediale Berichterstattung über diese Tragödie ist nahezu nicht existent – die erste Meldung bezüglich der angenommenen Havarie dieses Schiffes lässt einen Monat auf sich warten – und an der Suche nach dem verschollenen Schiff beteiligen sich ganze null Nationalstaaten (ebd.). Zwei, zumindest auf den ersten Blick, hinreichend ähnliche Fälle, die doch derart divergierende internationale Reaktionen hervorrufen: was also unterscheidet sie?

      Eric Reidy (2015b), Mitbegründer eines Teams aus Journalist_innen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das tatsächliche ‘Schicksal’ dieses „Ghost Boat“ sowie der Menschen an Bord zu ermitteln1, hat diesbezüglich eine eigene, erste Antwort:

      The people who fly in airplanes are affluent – rich enough to afford a plane ticket, at least – and have the legal status to board flights and cross international borders. They are not running, desperate for their lives because of oppression, war, or violence.

      Letzteres war allerdings bezüglich der Passagier_innen des „Ghoast Boat“ der Fall: Die Mehrheit von ihnen stammte aus Eritrea und floh vor dem dortigen Regime quer durch die sudanesische Sahara nach Libyen, um dort ein Schiff nach Italien zu besteigen (ebd.). Vor diesem Hintergrund hat Steve Saint Amour, geschäftsführender Direktor der Eclipse Group, eines Unternehmens, das sich auf Such- und Bergungsmissionen in Tiefwasser – z.B. nach verungückten Flugzeugen oder Schiffen – spezialisiert hat, eine noch triftigere Anwort auf oben stehende Frage: „In the case of the Ghost Boat, you only have stateless people […]. Which country has a national interest to find out what happened?“ (ebd.)

      Für Staatenlose interessieren sich (inter-)nationale politische Entscheidungsträger_innen schlichtweg nicht; zumindest nicht genug, als dass es von Interesse wäre, was mit ihnen geschieht. Hauptsache, sie bleiben ‘anderswo’. Wo (und wie) ist unerheblich. Insbesondere aber müssen sich EUropäische Entscheidungsträger_innen diesen Vorwurf gefallen lassen: Das Mittelmeer ist seit (spätestens) 2014 zur tödlichsten Flucht-/Migrationsroute der Welt geworden – mit respektablem Abstand: 69 Prozent aller weltweit während der Flucht/Migration erfassten Todesfälle ereignen sich im Mittelmeer (IOM 2016a: 4). Angesichts dessen hat es den Anschein, als sei Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit, obschon sie sich eigentlich auf die historische Periode von 1918 bis in die frühen 50er-Jahre bezieht, auch heute noch hochaktuell sowie bezüglich der von ihr identifizierten Effekte der Staatenlosigkeit radikal verwirklicht.

      Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit: Die Recht- und Weltlosigkeit der Staatenlosen

      Hannah Arendt erkannte früh, noch während der Zweite Weltkrieg in seinem vollen, furchtbaren Gange war, und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Fluchterfahrungen sowie der Erlebnisse ihrer Bekannten und Freund_innen, dass sich, auch abseits des deutschen Vernichtungskrieges, eine sozio-politische Entwicklung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen hatte (siehe z.B.: Arendt 1989a, 1989b): Bereits im Jahre 1943 konstatierte sie in ihrem Aufsatz „Wir Flüchtlinge“, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen“ habe (Arendt 1989b: 8f.). Zwar waren ihre Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch allein – bzw. mindestens vorrangig – auf jüdische Menschen respektive die, die von der nationalsozialistischen Administration als solche kategorisiert worden waren, bezogen (vgl. ebd.: 21); es schienen hier jedoch schon Einsichten auf, die Arendt (2011, 2013: Kap. 9) in Hinblick auf das ‘generelle’ Phänomen der Staatenlosigkeit erst Jahre später einer historischen wie systematischen Analyse unterziehen sollte. Unter anderem als Reaktion auf die 1948 durch die Generalversammlung der Vereinen Nationen verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erschien nur ein Jahr später, 1949, Arendts bahnbrechender Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in welchem zum ersten Mal ihre berühmte Formel vom „Recht, Rechte zu haben“ auftauchte (Arendt 2011). In ihrem 1951 veröffentlichten Großwerk The Origins of Totalitarianism (1955 erstmals in deutscher Sprache als Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft), griff Arendt (2013: Kap. 9) diesen Ansatz dann erneut und in vertiefter Weise auf.

      Den maßgeblichen Ausgangspunkt von Arendts (2011, 2013: Kap. 9) historisch-empirischer Untersuchung der sozio-politischen Genese der Staatenlosigkeit bildet die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, mit dessen Ende auch die letzten Vielvölkerstaaten zusammenbrachen und der moderne Nationalstaat sich anschickte, seinen Triumphzug als (bis heute) hegemoniale Form gesellschaftlicher Organisation zu Ende zu führen. Auf diesen Krieg folgte eine Reihe an sozio-politischen wie sozio-ökonomischen Krisen (Inflationen, Massenarbeits- und -erwerbslosigkeit, zahlreiche blutige Bürgerkriege, Pogrome etc.), die schließlich im Zweiten Weltkrieg kulminierten (Arendt 2013: 559f.). Im Zuge dieser Entwicklungen wuchs die Zahl der aus ihrer ‘Heimat’ Vertriebenen und/oder Fliehenden sukzessive an, sodass „mehr und mehr Menschen in Situationen gerieten, die weder von dem politischen noch von dem gesellschaftlichen herrschenden System vorhergesehen waren“ (ebd.: 560). Es waren exakt jene Menschen, die es, gerade weil die internationale Staatenwelt keine sie betreffende Regel kannte, gerade weil solche Menschen aus der Perspektive einer nationalstaatlich ‘sauber’ geordneten Welt eigentlich gar nicht vorstellbar waren, gar nicht hätten existieren dürfen; Menschen, die, bar jeglicher Staatsbürger_innenschaft, innerhalb des internationalen Staatensystems mindestens de jure scheinbar gar nichts und niemand mehr waren:

      Wen immer die Ereignisse aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte, herausgeschlagen hatten, blieb heimat- und staatenlos; wer immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos. (ebd.)

      Nicht ihre Flucht oder Migration per se waren historisch ‘neue’ Phänomene, sondern dass diese Menschen im Anschluss keinen ‘Platz’ auf der nationalstaatlich geordneten politischen Landkarte mehr finden konnten. Diese „Unmöglichkeit, eine neue [Heimat] zu finden“ (ebd.: 607f.) war allerdings keine praktische, sondern vielmehr eine theoretisch-juridische, die sich aus der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Verrechtlichung des internationalen Staatensystems ergab: es „war kein Raumproblem, sondern eine Frage politischer Organisation“ (ebd.: 608). Durch ihre Flucht erschufen sich die Staatenlosen vor dem Hintergrund des internationalen Staatensystems – quasi performativ – selbst als die oben genannte „neue Gattung von Menschen“ (Arendt 1989b: 8f.), die aufzufangen bzw. wieder aufzunehmen die internationale Staatenwelt bestenfalls rechtlich nicht in der Lage, schlechtestenfalls nicht gewillt war. Das spätestens seit der Antike – zumindest hinreichend – gängige Asylwesen/-recht brach aufgrund der schieren Zahl der Flüchtlinge und Staatenlosen, ihrer (politischen) Unschuld – sie waren ja nicht im eigentlichen Sinne politisch Verfolgte –, sowie der vorangeschrittenen internationalen Verrechtlichung zusammen (Arendt 2013: 383f., 586f., 609f.). Wer als Staatenlose_r also ihre/seine Staatsbürger_innenschaft