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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Rahmen der Legalität überhaupt herausgeschleudert ist und aufgehört hat, eine juristische Person zu sein“ (ebd.: 609).

      Vor diesem Hintergrund sieht Arendt in den gängigen juristischen Kategorien „Flüchtlinge“, „de jure“ und „de facto Staatenlose“ nichts als ‘Taschenspielerei’: Nach dieser ‘Logik’ hätten die Flüchtlinge schlicht repatriiert werden, während den Staatenlosen simplerweise ein neuer Staat hätte zugewiesen werden müssen, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Jedoch fand sich bezüglich der Staatenlosen schlichtweg kein Staat, der sie hätte aufnehmen und somit, juristisch gesprochen, (neu) ‘patriieren’ bzw. ‘naturalisieren’ wollen, und ebenso schwierig gestaltete sich die ‘Repatriierung’ der Flüchtlinge, weshalb sie in der Konsequenz allesamt de facto staatenlos blieben (ebd.: 582f.). Das lag zum einen daran, dass „alle Flüchtlinge praktisch staatenlos sind und nahezu alle Staatenlosen faktisch Flüchtlinge waren“ (ebd.: 582), und zum anderen, „[w]as die Repatriierung anlangt, […] ihre Unmöglichkeit ja gerade das [ist], was legal den Flüchtling konstituiert“ (ebd.: 583, Fn.: 20). Denn ‘Repatriierung’ bedeutete im Falle der Staatenlosen ja nicht mehr – oder eben weniger –, als die „Rückverweisung in ein »Heimatland«, das entweder den Repatriierten nicht haben und als Staatsbürger nicht anerkennen will oder umgekehrt ihn nur allzu dringend zurückwünscht, weil er ein Flüchtling ist“ (ebd.: 579). Insofern subsumiert Arendt die Kategorie der „Flüchtlinge“ letztlich unter die der „Staatenlosen“ (ebd.), genauso wie sie die Unterscheidung zwischen de jure und de facto Staatenlosen für sinnlos bzw. hinfällig erachtet: ihr geht es nicht um die juristische ‘Faktenlage’, sondern um die tatsächliche Lebenswirklichkeit und -praxis, also nicht darum, ob jemand im rechtmäßigen Besitz eines Passes – und damit de jure einer Staatsbürger_innenschaft – ist, sondern darum, ob diese Person ebendiese Staatsbürger_innenschaft de facto, mit allen für sie konstitutiven Rechten und Pflichten, auch effektiv wahrnehmen und aktualisieren kann bzw. könnte. Der Besitz eines Passes, der einen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, weil der entsprechende Staat diesen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, ist der Besitz eines wert- und inhaltslosen Stückes Papier oder sonstigen Materials, insofern es in diesem Fall vollkommen unerheblich ist, ob ich ‘Papiere habe’ oder nicht habe, also ein buchstäblicher sans papiers bin.

      In der Konsequenz ist der de facto-Verlust der Staatsbürger_innenschaft also gleichbedeutend mit dem Verlust der Menschenrechte: Arendt (ebd.: 621) zieht die „Parallele zwischen dem Naturzustand, in dem es »nur« Menschenrechte gibt, und dem Zustand der Staatenlosigkeit, in welchem alle anderen Rechte verlorengegangen sind“, um aufzuzeigen, dass beide Zustände, zumindest in Bezug auf die in sie versetzten Subjekte, letztlich identisch sind; dass also dort, wo Menschen sich ‘nur noch’ auf die Rechte berufen können, auf die sie allein aufgrund der bloßen Tatsache ihres Menschseins Anspruch haben sollen, überhaupt keine Rechte mehr existieren, dass diese Menschenrechte, welche Menschen vorgeblich qua Geburt bzw. ‘Natur’ zuteil werden, letztlich ‘leer’ bzw. nichtexistent sind. Die Staatenlosen, die durch den Verlust einer effektiven Staatsbürger_innenschaft in diesen vermeintlichen ‘Naturzustand’ versetzt wurden, konnten am eigenen Leib und Leben in Erfahrung bringen, „daß die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war“ (ebd.: 620). Ebenjene „abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins“ hätte jedoch eigentlich hinreichen müssen, sie für die Inanspruchnahme ‘der’ Menschenrechte zu qualifizieren. Folglich, so Arendt, hat

      Staatenlosigkeit in Massendimensionen […] die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen. (ebd.: 607)

      Da dies nachweislich nicht der Fall war, bleibt Arendt (ebd.: 619f.) nur – quasi als logische Konsequenz –, den allgemeinen Zusammenbruch der Menschenrechte zu konstatieren. Denn was Staatenlosigkeit laut Arendt (2011, 2013: Kap. 9) generell kennzeichnet ist ein Zustand absoluter Recht- und Weltlosigkeit, wobei Rechtlosigkeit eine spezifische Form politisch-rechtlicher Deprivation konstituiert, während es sich im Falle der Weltlosigkeit um eine Form existenzieller Deprivation handelt, die erst vor dem Hintergrund von Arendts ‘breiterer’ philosophischer Position bzw. politischer Theorie besser verständlich wird. Als Konsequenzen der Staatenlosigkeit sind Recht- und Weltlosigkeit eng miteinander verwoben; aus Arendtscher Perspektive muss die Weltlosigkeit der Staatenlosen notwendigerweise auf ihre Rechtlosigkeit folgen bzw. mit ihr einhergehen, und ist, wie sich zeigen wird, noch weithin gravierender als Rechtlosigkeit dies ohnehin schon ist.

      Die Rechtlosigkeit der Staatenlosen

      Das für Arendt (2011, 2013: Kap. 9) an der Rechtlosigkeit der Staatenlosen so neue wie bezeichnende war ihre Absolutheit, welche nicht zuletzt auch aus der globalen Durchsetzung und Verrechtlichung des internationalen Staatensystems resultierte, die ihnen schlichtweg keinen ‘Platz’ auf dieser Erde ‘übrig ließ’: schon zuvor waren einzelne (Menschen-)Rechte zweifellos substantiell verletzt oder nicht gewährt worden – und dies gleichsam in großer Zahl und schwerwiegender Weise; was allerdings ein bisher ungekanntes Phänomen darstellte, waren Menschen, die mit einem Mal all ihre (Menschen-)Rechte – quasi en-bloc – verloren bzw. dieser beraubt wurden, und für die – genauer: gerade weil für sie – keine politische Gemeinschaft mehr existierte, in welcher Subjekte sich wechselseitig Rechte überhaupt erst hätten garantieren können. Auf diese Situation waren ‘die’ Menschenrechte in ihren zahlreichen Festschreibungen und Formulierungen von letztlich partikularen Rechten nicht vorbereitet bzw. ausgerichtet: Denn eine Verletzung substantieller (Menschen-)Rechte bzw. einer Teilmenge von ihnen bedeutet zwar eine (Menschen-)Rechtsverletzung, nicht aber einen buchstäblichen Verlust dieser Rechte (Arendt 2013: 611). Eine Rechtsverletzung kann überhaupt nur unter der Voraussetzung eintreten, dass ebendiese Rechte intakt bzw. tatsächlich existent sind, also von Rechtssubjekten beansprucht werden; ein tatsächlicher Rechtsverlust hingegen bedeutet ihre Nicht(-mehr-)existenz, vor deren Hintergrund diese Rechte überhaupt nicht mehr verletzt werden können, da es schlicht nichts mehr gibt, was verletzt werden könnte. Aber auch im Falle des tatsächlichen Verlustes einzelner Rechte konnte noch nicht von einem absoluten Rechtsverlust gesprochen werden, solange zumindest einige Rechte hinreichend intakt blieben; das Phänomen absoluter Rechtlosigkeit trat erst mit den Staatenlosen auf, die plötzlich ohne jede politische und somit Rechtsgemeinschaft dastanden, innerhalb der ihnen Rechte als solche erst hätten gewährt werden können (ebd.: 611f.). Vor dem Hintergrund der sozialen Ontologie von Rechten sowie ihrem relationalen, gruppenbezogenen Charakter als sozio-politische Institution (vgl. ebd.: 622; 2011: 404, 407) verloren Staatenlose mit ihrer politischen Gemeinschaft also nicht einfach einzelne Partikularrechte, sondern vielmehr alle ihre Rechte, ihren persönlichen Status als Rechtssubjekt, und wurden somit absolut rechtlos (Arendt 2011: 402). Und vor dem Hintergrund des Verlustes dieser politischen Gemeinschaft konnte auch der Genuss bestimmter ‘Rechte’ nicht über die Lage der Staatenlosen hinwegtäuschen: denn wurden einer/m Staatenlosen spezifische substantielle Rechte (zumindest ihrem Inhalt nach) zuteil, dann nie als Rechte, die sie/er legitimerweise hätte beanspruchen oder einklagen können; vielmehr konnte sie/er sich darüber ‘glücklich schätzen’. Wurden ihr/ihm Rechte nicht gewährt oder wieder entzogen, so musste sie/er sich damit abfinden und hatte keine Handhabe dagegen. Wurden Staatenlosen also ‘Rechte’ gewährt, geschah dies gegebenenfalls unfreiwillig und sozusagen eher ‘zufällig’, oder aufgrund der Freiwilligkeit und des ‘guten Willens’ der verantwortlichen Institutionen. ‘Rechte’ aber, deren Gewährleistung keine Pflicht ist, sondern von Freiwilligkeit und/oder ‘gutem Willen’ abhängt, können wohl nach keiner juridischen Definition tatsächlich als Rechte gelten:

      Die partikularen Rechte, die der Staatenlose in nichttotalitären Ländern genießt und die sich vielfach mit den proklamierten Menschenrechten decken, können an der fundamentalen Situation der Rechtlosigkeit nicht das geringste ändern. Sein Leben, das unter Umständen durch private oder öffentliche Wohlfahrtsorganisationen über Jahrzehnte erhalten wird, verdankt er der Mildtätigkeit privater oder der Hilflosigkeit öffentlicher Instanzen, in