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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Wege der „Gerechtigkeit“ aufgewertet werden, werden sie dann sozial integriert, sondern darüber, dass sie ihre Interessen einer ihnen fremden „Gerechtigkeit“ unterwerfen.

      Das besondere Urteilsvermögen, eigene Interessen unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen, hat kognitive Voraussetzungen – und auf diese verweist die zweite Erklärung: „Gerechtigkeit“ kann man nur erzeugen, wenn man konkrete Situation transzendieren, wenn man zwischen (Un-)Zufriedenheit über jeweils besondere Lebenslagen und der Bewertung der sie beeinflussenden sozialen Verhältnisse unterscheiden oder wenn man die Veränderung sozialer Verhältnisse intendieren kann. Hinsichtlich dieser kognitiven Voraussetzungen ist zu erwarten, dass sozial Schwache gegenüber anderen benachteiligt sind, was nicht heißt: urteilsunfähig sind – und dass sie von daher auch weniger in der Lage sind, eigene Interessen auf dem Wege der Gerechtigkeit zu bringen. Ihr reflektierendes Urteilsvermögen ist aktiv; es bleibt aber, so ist zu erwarten, häufiger „unterhalb“ des Niveaus, auf dem ihr Urteilen als Gerechtigkeitsurteile auffällig und von anderen bemerkt wird.

      Um den der „Gerechtigkeit“ eigenen Ansprüchen der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit genügen zu können, müssen Urteilende den jeweiligen Einzelfall transzendieren und jenseits von „Hier und Jetzt“ etwas Allgemeines erzeugen können. Diejenigen am unteren Rand der sozialen Ungleichheiten sind aber vergleichsweise stärker mit dem „Hier und Jetzt“ beschäftigt, sind damit beschäftigt fehlende Ressourcen auszugleichen, Solidaritäten zu mobilisieren und Schicksalsschlägen auszuweichen. Im Vergleich mit den Bessergestellten „stecken“ sie in ihren konkreten Situationen und haben wenig Anlass und Chancen, diese zu transzendieren. Sie werden ihre Situationen zwar bewerten; aber ihre Bewertungen werden sie nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in Vorstellungen der Gerechtigkeit überführen, die auch jenseits dieser konkreten Situationen Gültigkeit beanspruchen können.

      Mit „Gerechtigkeit“ beziehen sich Urteilende auf die soziale Ordnung von sozialen Verhältnissen, die besonderen Lebenssituationen von einzelnen bestimmen, nicht aber determinieren. Eine solche Ordnung lässt sich unter dem Anspruch von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit verhandeln; hingegen lassen sich die besonderen Lebenssituationen von einzelnen zumindest in ihrer Komplexität weder unter die mit „Gerechtigkeit“ intendierten Allgemeinheit bringen, noch unter dem Anspruch der Allgemeingültigkeit bewerten. „Gerechtigkeit“ hat deshalb als kognitive Voraussetzung, zwischen der besonderen Situation und der sie bestimmenden, aber eben nicht determinierenden Ordnung sozialer Verhältnisse unterscheiden zu können, etwa nicht von der Zufriedenheit über seine Lebensverhältnisse auf die Gerechtigkeit der sozialen Ordnung zu schließen oder bei einer negativen Bewertung der eigenen Lebensverhältnisse diese nicht bereits für die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse zu nehmen. Diese Differenzierungen dürften vor allem Menschen beherrschen, die ihre besonderen Lebensverhältnisse transzendieren können. Genau dies ist aber für sozial Schwache eher unwahrscheinlich, so die Bewältigung ihrer Lebensverhältnisse eine vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit verlangt. So aber sind sie einmal mehr darin benachteiligt, Urteile über ihre Lebensverhältnisse und ihre Interessen öffentlich auf das Niveau der „Gerechtigkeit“ zu bringen.

      Gerechtigkeitsvorstellungen setzen voraus, dass allgemeine Interessen intendiert werden können und in der Folge die Ordnung der jeweiligen Situation auf diese Interessen hin verändert werden kann. Intendier- und Veränderbarkeit ist nicht nur eine pragmatische Voraussetzung, sondern mehr noch: eine kognitive Bedingung von „Gerechtigkeit“. Nur das, was als – in irgendeiner Weise – intendiert werden kann, lässt sich vernünftigerweise unter der Maßgabe der Gerechtigkeit prüfen. Unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten muss damit gerechnet werden, dass entsprechende Erwartungen bei sozialen Schwachen unwahrscheinlicher sind als bei anderen, die auf Grund ihrer Machtressourcen ihre sozialen Zusammenhänge nicht nur wirksamer beeinflussen können, sondern auch über entsprechende Erfahrungen verfügen und daraus entsprechende Erwartungen für die Zukunft ziehen. In dem Maße, wie unter sozial Schwachen nicht nur die Erfahrung von Veränderungen im eigenen Interesse, sondern auch die Erwartungen solcher Art von Veränderungen seltener ist bzw. sind, verfügen sie auch seltener über die Voraussetzungen, ihre Situationen als ungerecht und ihre Interessen als gerecht auszuweisen.

      Ein Drittes kommt hinzu: Gerechtigkeitsvorstellungen bewegen sich innerhalb einer gemeinsamen, mit anderen geteilten Sprache, da nur auf dieser Grundlage allgemeine Interessen allgemeingültig ausgewiesen werden können. Eine gemeinsame Sprache ist aber nicht nur eine Ermöglichungsbedingung von „Gerechtigkeit“, sondern zugleich auch deren Grenze: Was in der gemeinsamen Sprache nicht als allgemein und allgemeingültig ausgesagt werden kann, kann prinzipiell auch nicht gerecht „gemacht“ werden. Auch die an unteren Positionen Stehenden haben an dieser Sprache Anteil; sie finden aber in dieser Sprache nicht die gleichen Möglichkeiten, ihre abweichenden Erfahrungen auszudrücken und ihre davon eingefärbten Interessen als allgemein behaupten und als allgemeingültig erweisen zu können. Zudem sind in dieser Sprache hegemoniale Gerechtigkeitsvorstellungen eingewoben, die sich ihnen in der Nutzung dieser Sprache „aufdrängen“ – und zwar auch dann, wenn sie den eigenen Interessen widersprechen.

      Gerechtigkeit von unten

      Ist es nach den bisherigen Überlegungen plausibel, dass Menschen in unteren Positionen ihr Urteilsvermögen öffentlich seltener vollziehen und dass ihre Gerechtigkeitsurteile öffentlich zumeist nicht vorkommen, dann ist es aber zugleich auch plausibel, dass unterhalb des Niveaus, auf der Gerechtigkeitsurteile öffentlich bemerkt und verhandelt werden, ein Urteilsvermögen der Subalternen besteht – und mehr noch: dass nicht nur ein entsprechendes Vermögen, an das man ansetzen und das man unterstützen kann, besteht, sondern dass dieses Vermögen vollzogen wird, wofür man sich dann auch inhaltlich interessieren kann. Bestehen aber jenseits der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten solche „Gerechtigkeiten von unten“, dann wird vom Konzept „Gerechtigkeit“ in aller Öffentlichkeit ein exkludierender, zumindest ein diskriminierender Gebrauch genommen – und dies in Widerspruch zu dem diesem Konzept inhärenten inklusiven Versprechen. Obgleich „Gerechtigkeit“ unter den Ansprüchen von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit steht, entsteht sie unter Bedingungen der Exklusion – und mithin dadurch, dass die beiden Ansprüche der „Gerechtigkeit“ verletzt werden. Dieser Widerspruch schlägt auf die Geltung der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zurück – spätestens dann, wenn deren exkludierenden Bedingungen bewusst werden.

      Dies ist eine beunruhigende Nachricht für Menschen in subalternen Positionen – und für all diejenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, deren Sache zu ihrem Anliegen gemacht haben. Im Gegensatz zu Anderen finden Subalterne keinen funktionalen Ersatz für die der Gerechtigkeit zugeschriebenen Macht – und bleiben bei der Ordnung der sozialen Verhältnisse, die ihre Lebenslagen bestimmen, ohne Macht. Eine beunruhigende Nachricht ist dies aber auch für all diejenigen, die am Konzept „Gerechtigkeit“, aus welchen Gründen auch immer, als einer politischen Ressource in demokratischen Auseinandersetzungen interessiert sind. In dem Maße, wie „Gerechtigkeit“ hinsichtlich ihres inklusiven Versprechens desavouiert und wie diese Blamage öffentlich manifest wird, wird „Gerechtigkeit“, werden aber auch deren Surrogate als Werkzeug(e) zur Rechtfertigung von Interessen und deren politischen Durchsetzung unbrauchbar, mehr noch: Mit „Gerechtigkeit“ und deren Surrogate wird ein für demokratische Politik konstitutives Konzept in Zweifel gezogen. Daher liegt es nicht nur im Interesse von denen „da unten“, der „Gerechtigkeit“ in ihrem inklusiven Versprechen auf die Sprünge zu helfen und denen „da unten“ mit ihrem Urteilsvermögen Zugang zu den öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zu verschaffen.

      Auch für die wissenschaftlich betriebenen Ethiken sind die aus öffentlichen Diskursen exkludierte „Gerechtigkeiten von unten“ prekär: Zumindest wenn sie materiale Fragen bearbeiten, liegt ihre diskursive Rationalität außerhalb ihrer selbst, so die Gültigkeit von Urteilen und die Überzeugungskraft entsprechender Gründe – zumindest letztlich – nicht wissenschaftsintern erwiesen werden kann. „Bewahrheitet“ werden wissenschaftlich betriebene Ethiken nicht in ihren Wissenschaften, sondern erst in öffentlichen Diskursen. Dort müssen sich innerhalb der Wissenschaften bewährte Urteile und Begründungen ein weiteres Mal bewähren können – und werden erst dadurch