Dann kommen Pflichten an dich heran.«
»Geht der Schutzengel auch in die Schule?«
»Der braucht nicht zu gehen.«
»Na, der hat’s gut, Mutti. – Hat der auch Geburtstag?«
»Nein.«
»Bekommt der niemals was geschenkt?«
»Nein, das braucht er nicht.«
»Das würde mir gar nicht gefallen, Mutti.«
»Jetzt bist du mein artiges, liebes Kind und bemühst dich, bald einzuschlafen. Denke nochmals daran, daß dich alle Menschen heute sehr liebgehabt haben, weil du ein liebes Kind warst. Nimm dir fest vor, auch in der nächsten Zeit sehr brav und artig zu sein, damit man unser Goldköpfchen gern hat, und vergiß auch nicht, daß der liebe Gott immer bei dir ist und all dein Tun und Lassen beobachtet, daß er dir den Schutzengel schickt, der dich behütet.«
Goldköpfchen hatte sich fest in den Arm der Mutter geschmiegt und aufmerksam zugehört.
»Mutti, Goldköpfchen möchte ein gutes, liebes Kind sein.«
»Wenn du dir immer ernstlich Mühe gibst, wird es dir auch gelingen. Und nun gute Nacht, mein Liebling.«
Der erste Schultag
Endlich war der Tag herangekommen, an dem die Bärbel zum ersten Male zur Schule sollte. Im Hause des Apothekenbesitzers Wagner herrschte daher leichte Erregung, denn solch ein wichtiger Tag war für die gesamte Familie ein großes Ereignis.
Frau Wagner hatte ihre sechsjährige Tochter in die Privatschule des Fräulein Greger angemeldet, einer Dame, die seit mehr als einem Jahrzehnt eine kleine Töchterschule in Dillstadt innehatte. Fräulein Greger, die als Vorsteherin selbst unterrichtete, hatte sich zur Hilfe noch zwei Lehrerinnen angenommen, dazu für etliche Stunden den aus der Volksschule entlehnten Lehrer Baller. Mit diesen wenigen Lehrkräften wurde die kleine Privatschule versorgt, die aber einen sehr guten Ruf hatte, weil Fräulein Greger für außerordentlich tüchtig galt.
Vergeblich hatten Herr und Frau Wagner versucht, Bärbel für die Schule zu erwärmen, denn das kleine Mädchen sah dem ersten Schultage mit größtem Unbehagen entgegen. Man brauchte sich darüber gar nicht zu wundern, denn Emil Peiske, der Sohn des Schneiders und Bärbels Freund, hatte dafür gesorgt, daß Bärbel eine ganz falsche Anschauung von Schule und vom Schulunterricht bekam.
»Mehr Prügel gibt es dort als Unterricht«, hatte der vierzehnjährige Knabe gesagt, »mucksen darfst du nicht, immerzu nur lernen, daß einem der Kopf brummt; mit dem Spielen ist es aus, lustig sein darfst du auch nicht mehr. – Na, es ist eine Schinderei!«
Aber nicht nur Emil Peiske hatte die Schule als ein Institut des Schreckens hingestellt, der Hausdiener des Apothekers, der schon mehrere Jahre seine Stelle bei Herrn Wagner innehatte, wußte ebenfalls schreckliche Dinge von den Lehrern zu erzählen.
»Die Lehrer hauen, und die Lehrerinnen geben Strafarbeiten auf. Ich bin froh, daß ich raus bin; ich legte mich lieber ins Grab, als daß ich nochmals in die Schule ginge.«
Alle Bemühungen, Goldköpfchen, wie Bärbel überall im Städtchen genannt wurde, vom Gegenteil zu überzeugen, fielen daher auf unfruchtbaren Boden. Bärbel sah in ihren zukünftigen Lehrerinnen die Peiniger, und schon manche Träne war über das verängstigte Kindergesicht gerollt, wenn Bärbel daran dachte, daß der verhängnisvolle Tag näher und immer näher heranrückte.
In ihrer Seelennot hatte Bärbel ihren Bruder Joachim gefragt, der schon so viele Jahre zur Schule ging und auch zuerst in der Privatschule des Fräulein Greger gewesen war, aber seit einem Jahr das Gymnasium in der nahen Kreisstadt besuchte. Anfänglich war geplant, Joachim alltäglich mit der Bahn hinüberfahren zu lassen; aber Apotheker Wagner hielt es für richtiger, den jetzt vierzehnjährigen Knaben in Pension zu geben, damit auch die üble Freundschaft mit dem Schneidermeisterssohn Emil Peiske endlich aufhöre.
Für Bärbel war diese Trennung recht schwer. Wenn sie auch vom Bruder Joachim häufig geärgert wurde, liebte sie ihn doch schwärmerisch. Kam er zu den Ferien heim, jubelte sie hellauf. Joachim behandelte seine kleine Schwester sehr von oben herab, aber im Grunde seines Herzens hatte er das goldhaarige Schwesterlein doch recht lieb.
Er sah Bärbels verängstigtes Gesichtchen, als sich die Kleine bei ihm nach der Schule erkundigte, und meinte herablassend: »Wenn du immer den Mund hältst und die Olle nicht zu sehr ärgerst, mag es schon gehen. Schön ist es natürlich nicht, – man muß es eben ertragen.«
Ein guter Trost war das auch nicht. Bärbel blickte voll Neid auf die jetzt zwei Jahre alten Zwillinge, die es noch lange nicht nötig hatten, an Schule und Lernen zu denken, die mit Pferdchen und Bauklötzchen spielen konnten und von den Eltern verhätschelt wurden.
Die Osterferien waren vorüber, Bruder Joachim war wieder abgereist, und Bärbel zitterte vor dem morgigen Tage, der ihr den ersten Schulgang brachte. Als die Kleine des Abends im Bettchen lag, als die Mutter ihr den Gutenachtkuß gab, hielt Goldköpfchen mit beiden Armen Frau Wagner fest.
»Wird sie mich auch nicht totschlagen, Mutti?«
»Wer denn, mein liebes Kind?«
»Morgen – die Lehrerin.«
Frau Wagner seufzte tief. »Kleines Schäfchen, ich habe dir doch schon oft gesagt, daß es in der Schule sehr schön ist und du gar keine Angst zu haben brauchst. Fräulein Greger ist eine sehr liebe Dame, und Fräulein Fiebiger, die dir in der Hauptsache den Unterricht erteilen wird, haben alle Kinder gern. Du bist ja auch nicht allein, du hast noch drei kleine Mitschüler. Es wird doch furchtbar nett sein, wenn du lesen und schreiben lernst.«
»Ich möchte lieber was anderes lernen, Mutti, und nicht in die Schule gehen.«
»Sei nicht unvernünftig, Bärbel, – alle Kinder müssen in die Schule gehen und lernen. Mache deine Mutti nicht erst traurig.«
Der Schultag kam heran. Es war ein banger Seufzer, den die kleine Bärbel ausstieß, als ihr das wichtige Ereignis zum Bewußtsein kam.
Schweigend, das kleine Herzchen voller Angst, stampfte Goldköpfchen neben der Mutter einher, dem Schulhause entgegen. Nochmals versuchte Frau Wagner, mit freundlichen Worten ihrem kleinen Töchterchen die Freuden der Schulzeit zu schildern, aber Bärbel hatte dafür kein Ohr. Das Verhängnis war unvermeidlich, in wenigen Minuten würde sie in der Schulbank sitzen und die ersten Schläge bekommen.
Goldköpfchen hielt sich am Rock der Mutter fest, als es vor Fräulein Greger stand, einer großen, stattlichen Dame mit strengem Gesicht. Jetzt lächelte Fräulein Greger freilich und streckte Bärbel die Hand hin.
Scheu legte die Kleine ihre Rechte hinein, dabei suchten die Augen nach dem Stock, der nirgends zu sehen war.
Allmählich fanden sich auch die anderen drei Abcschützen mit ihren Müttern ein. Da war die kleine Maria Koch, die Tochter des Arztes, Hanna Hasselmann, des Kaufmanns Einzige, und Georg Schenk, der Sohn des Buchhändlers. Bärbel war eigentlich die einzige, die deutliche Angst zeigte; die anderen drei schauten sich neugierig und unbefangen im Zimmer um.
Bärbel hätte am liebsten laut aufgeschluchzt, als die Mutter sich verabschiedete. Emil Peiske hatte erzählt, daß es hier eine finstere Kammer gäbe, in die man gesperrt würde. Ob man wohl alle vier Kinder zusammensperrte, oder ob sie allein in das finstere Loch kam?
Aber nichts von alledem geschah. Die Schulvorsteherin führte die vier Kleinen in ein kleines, aber freundliches Zimmerchen, in dem sechs Schulbänke standen. An der einen Wand, vor den Bänken, standen etwas erhöht ein Tisch und ein Stuhl. Bärbel wußte, daß dies der Platz für die böse Lehrerin war, die von oben herunter die Kinder beobachtete. Dort die große Wandtafel, an den Wänden einige Bilder und eine Karte mit kleinen Tintenklecksen.
Bärbel wagte nicht, sich umzusehen. Endlich vernahm sie neben sich eine freundliche Stimme. Sie schaute auf. Da stand schon wieder eine fremde Frau, die