mal wissen, warum ich in die Ecke gestellt werde, kann ich es doch auch nicht wissen!«
Fräulein Greger versuchte zu beschwichtigen. »Setz’ dich nun wieder auf deinen Platz, Bärbel, und sei von nun an artig und aufmerksam.«
Seit diesem Augenblicke hatte die junge Lehrerin bei Bärbel vollkommen verspielt. Die Kleine sah in ihrer Lehrerin die Peinigerin. Das trug natürlich nicht dazu bei, den Lerneifer zu erhöhen, es kam auch noch der Trotz dazu, der Bärbel häufig den Mund fest verschloß.
Schließlich sah sich die Schulvorsteherin genötigt, Bärbels Eltern aufzusuchen, um dort einmal nachzuforschen, aus welchem Grunde die Kleine gar so störrisch sei.
Frau Wagner war aufs höchste bestürzt und nahm sich vor, Bärbels Schulaufgaben alltäglich zu überwachen. So ging es nicht weiter. Wenn man das Kind nicht energisch zur Arbeit anhielt, würde die Kleine nicht vorwärtskommen, und man bestärkte nur deren Trägheit.
Frau Wagner machte daher dem Gatten davon Mitteilung, der sofort die faule Tochter zu sich rief.
»Ich höre ja schöne Sachen über dich, Bärbel! Warum hat dich Fräulein Fiebiger heute bestrafen müssen?«
Sehr scheu schaute die Kleine den Vater an, der so streng sprach.
»Vati …«
»Nun?«
»Darf sie mich denn bestrafen für etwas, was ich gar nicht gemacht habe?«
»Nein, das darf sie natürlich nicht, aber das tut Fräulein Fiebiger auch nicht.«
»Doch, Vati, das macht sie immer.«
»Wofür hat sie dich denn bestraft?«
»Weil ich die Schularbeiten nicht gemacht habe.«
»Da hat sie das größte Recht dazu. – Sie sollte dir einmal eine Portion Schläge verabfolgen. – Willst du denn durchaus immerzu Schläge haben?«
»Nein, Vati, das will ich nicht.«
»Du mußt doch vernünftig werden, Bärbel, du mußt einsehen, daß es mir und der Mutti weh tut, wenn ich dich strafen muß.«
»Weh mag es dir schon tun, Vati, aber nicht an derselben Stelle wie mir.«
»Im Herzen tut es mir weh, und das ist noch viel schlimmer, als wenn ich dir das Hinterleder klopfe. – Höre ich noch ein einziges Mal Klagen über nicht gemachte Arbeiten, so setzt es Schläge, an die du drei Tage denken wirst.«
Bärbel wurde sehr kleinlaut. Es kannte die strafende Hand des Vaters, da war nicht zu spaßen.
»Vati – es wäre doch besser gewesen, wenn ich nicht zur Schule gekommen wäre, dann hättest du dich nicht so geärgert.«
»Willst du wirklich dumm bleiben und nicht einmal lesen und schreiben können? Was soll denn dann aus dir werden?«
Das Kind seufzte tief. Es empfand das Leben als eine drückende Last, und die Schule war das schrecklichste aller Übel.
Sitzengeblieben
Wie schnell doch die Zeit verging! Frau Wagner saß am Fenster des Wohnzimmers und schaute dem Spiel der beiden Zwillingsknaben zu. Wie deutlich erinnerte sie sich noch an jene Zeit, in der die Kleinen zur Welt kamen. Das waren sechs Jahre her, und Martin und Kuno würden in wenigen Wochen zum ersten Male zur Schule gehen.
Andere Gedanken kamen und gingen. Goldköpfchens erster Schultag. Wie hatte die Kleine damals voller Angst diesem Ereignis entgegengesehen; Martin und Kuno hingegen freuten sich darauf, mit anderen Kindern lernen zu dürfen; Goldköpfchen war noch heute, obwohl es zehn Jahre zählte, kein Freund des Schulunterrichts und lernte nur mit innerem Widerstreben. Da Bärbel aber außerordentlich begabt war und dem Kinde alles zuflog, strengte es sich auch gar nicht an. Was in den Stunden durchgenommen wurde, behielt es, und die häuslichen Arbeiten wurden meist rasch und flüchtig erledigt.
Wie oft war Bärbel schon wegen Trägheit bestraft worden; Frau Wagner wußte, daß ihre Tochter etwas leisten konnte, wenn sie wollte; aber Bärbel wollte nun einmal nicht. So hoffte die Mutter auf die Zukunft, denn schließlich mußte das wilde Kind doch einmal einsehen, daß ohne Lernen und ohne Fleiß kein Mensch durchs Leben kam. Trotz allem hatte Fräulein Greger das süße Goldköpfchen über alle Maßen gern. Bärbel gab so logische Antworten, konnte so drollig sein, daß der Grimm der Schulvorsteherin sehr rasch wieder verflog. Mitunter wurde sie freilich bis zur Verzweiflung gebracht, wenn Bärbel vor sich hinträumte, bei einer Anfrage zusammenschreckte und dann eine vollkommen verkehrte Antwort gab.
Ganze Bücher hätte Frau Wagner über Bärbels Unaufmerksamkeiten schreiben können. Das ungereimteste Zeug schrieb das Kind zusammen, es überlegte nie; und so kam es auch, daß bei Diktaten Fehler auf Fehler zu finden waren, weil Bärbel nicht nachdachte. Frau Wagner hatte sich oftmals das Lachen verbeißen müssen, wenn sie die Hefte Goldköpfchens durchsah. Erst kürzlich hatte das Kind beim Diktat eines Gedichtes wieder den haarsträubendsten Unsinn niedergeschrieben. Noch jetzt ging ein Lächeln über Frau Wagners Gesicht, wenn sie daran dachte.
»Der König lag im Sterben«, hatte Fräulein Fiebiger diktiert, »da rief er seinen Sohn, er nahm ihn an den Händen und wies ihn auf den Thron.«
Was hatte Bärbel geschrieben? »Er nahm ihn bei dem Hemde und blies ihn auf den Thron.«
Die Aufsätze des Kindes waren höchst merkwürdig.
Bärbel schrieb mitunter wahre Räubergeschichten nieder. Dann flocht das Kind aber auch geschickt irgendein Ereignis mit ein, das es gehört hatte. Augenblicklich war Goldköpfchen wiederum mit einem Aufsatz beschäftigt. Absichtlich half Frau Wagner nicht, denn dieser Aufsatz sollte ausschlaggebend sein für die Osterzensur und die Versetzung.
Dieser Versetzung schaute man im Wagnerschen Hause freilich mit Sorgen entgegen. Fräulein Greger hatte bereits angedeutet, daß es ihr kaum möglich sein werde, Bärbel in eine höhere Klasse zu schieben, weil das Kind zu träge und gar zu unaufmerksam sei.
Der Vater hatte seiner Tochter strenge Strafe angedroht, wenn sie mit einem schlechten Zeugnisse heimkäme. Bärbel war darauf zu dem Provisor Senftleben gegangen, dem guten, alten Freunde, der noch immer in Dillstadt in der Apotheke weilte.
»Was machen wir denn, wenn wir ein schlechtes Zeugnis mitbringen?«
»Du hast ja noch vierzehn Tage Zeit, Bärbel, setze dich auf die Hosen.«
»Das nützt nichts mehr, Onkel Senftleben, gibt es denn kein Mittel?«
»Nur fleißig lernen, Bärbel!«
»Das nützt auch nichts mehr, aber – wenn ich ein schlechtes Zeugnis bringe, mußt du mir ein schmerzstillendes Mittel geben, Onkel Senftleben.«
»Ach so – du meinst wegen der Prügel, die es dann gibt? Gut, ich werde ein großes Pflaster bereit halten. Ich denke aber, du wirst vernünftig sein und in den beiden letzten Wochen noch recht gut aufpassen. Ich schenke dir eine Mark, wenn du versetzt wirst.«
Bärbel legte den Kopf mit den goldenen Locken auf die Seite. »Onkel Senftleben, das Geld können wir uns sparen, ich will dich nicht berauben.«
»Aha – du weißt also schon genau, daß du nicht versetzt wirst?«
»Ja«, nickte das Kind, indem es treuherzig zu dem Provisor ausschaute, »ich weiß es.«
»Ihr seid ’ne nette Schwefelbande, der Joachim schreibt auch, daß er sitzenbleiben wird. Warum macht ihr denn den Eltern keine Freude?«
»Wenn die Zwillinge jetzt zur Schule gehen werden, lernen sie für mich mit. Wenn ich zweie wäre, ginge es auch viel besser mit dem Lernen. Der eine weiß dann immer das, was der andere nicht weiß.«
»Du bist ein Faulpelz, Goldköpfchen, ich hoffe aber doch noch, daß du versetzt wirst.«
Bärbel schüttelte energisch den Kopf und eilte davon.
Für wenige Augenblicke nahm sich Goldköpfchen