ich soll in der Stunde aufpassen.«
»Der Georg hat doch die ganze Tafel vollgemacht.«
Fräulein Fiebiger drehte die Tafel auf die andere Seite und gebot dem Kinde, zu schreiben.
Da stand nun der Satz während der ganzen Stunde mahnend an der Tafel, und jedesmal, wenn Goldköpfchen aufschaute, las es die selbstgeschriebenen Worte; es bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln.
Endlich war die schreckliche Stunde vorüber.
»So, Bärbel, nun darfst du den Satz an der Tafel wieder fortwischen.«
Mit Begeisterung wischte die Kleine mit dem nassen Schwamm auf der Tafel herum.
»Fräulein?«
»Was willst du, Bärbel? – Hast du den Satz ausgelöscht?«
»Ja, – darf ich nun auch den hinteren vom Georg abwischen?«
»Ja.«
Georg schrie vor Lachen. Fräulein Fiebiger verwies ihm das Lachen; aber er hörte nicht auf.
»Fräulein, Fräulein«, rief er, »haben Sie gehört, was die Bärbel gesagt hat?«
Die Lehrerin errötete leicht, brach das Gespräch ab und gebot Ruhe.
In der nächsten Stunde aber erfüllte sich Bärbels Geschick. Fräulein Fiebiger hatte ohnehin heute schon ein scharfes Auge auf die kleine Zerstreute. Und da Bärbel immer wieder falsche Antworten gab, wurde die Lehrerin schließlich ernstlich böse.
»Ihr hattet zur heutigen Stunde auf, die erste Strophe zu lernen von dem Gedicht vom braven Mann. Bärbel, beginne.«
»Vom braven – Mann. – Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann.«
Wieherndes Gelächter in der Klasse.
»Das sagt mein Vater auch«, rief Hanna.
»So – Bärbel, – du bleibst nach Schulschluß hier und schreibst dreimal die erste Strophe des Gedichtes nieder.«
Bärbel wurde blaß. Die Worte fielen zentnerschwer auf das Kinderherz. Sie hörte in Gedanken die Worte der Mutter, sah die Eltern am kommenden Sonntag nach der Ruine fahren, man ließ sie daheim. Das stand für Bärbel felsenfest, daß sich die Mutter weder durch Bitten noch durch Versprechungen überreden ließ, sie zu der Ausfahrt mitzunehmen.
Die Tränen traten ihr in die Augen. »Das Lied vom braven Mann«, rief sie ängstlich, und hilfesuchend schaute sie sich um.
»Hoch klingt«, flüsterte Hanna ihr zu.
»Hoch klingt …« Bärbel war viel zu erregt, um die Verse zu wissen. Außerdem hatte sie sie sehr schlecht gelernt.
»Hoch das Bein, das Vaterland soll leben!« flüsterte Georg.
Die Lehrerin hörte den Zuruf. »Wenn du noch ein einziges Wort vorsagst, Georg, und wenn du weiter solch dummes Zeug redest, lasse ich dich auch nachsitzen.«
»Ich hab’ nichts gesagt.«
»Willst du noch lügen, Georg, ich habe deutlich gehört, daß du Bärbel zu verwirren suchtest.«
Georg lachte verstohlen in sich hinein. Fräulein Fiebiger wartete noch ein Weilchen; da aber Bärbel den Anfang nicht wußte, blieb es bei der diktierten Strafe.
Schließlich kam es dahin, daß auch Georg, der die Strophe ebenfalls nicht gelernt hatte, zum Nachbleiben verurteilt wurde; und während der Knabe diese Strafe gelassen entgegennahm, saß Bärbel verstört auf dem Platze und dachte an nichts anderes als an die verlorene Freude.
Um zwölf Uhr verließen die Kinder die Schule, Bärbel und Georg mußten zurückbleiben. Der Knabe schmierte aus dem Buch die erste Strophe ab, Bärbel hatte das Gesichtchen in die Arme gedrückt und weinte.
»Was heulst du denn, – schreib doch lieber! Ich bin bald fertig.«
»Ich darf am Sonntag nicht mitfahren«, klang es schluchzend zurück.
»Ach was, deine Eltern nehmen dich ja doch mit.«
»Nein, – ich darf bestimmt nicht mit. – Die Mutti hat gesagt, wenn ich noch einmal nachsitzen muß, darf ich nicht mit.«
»Sag’s doch nicht!«
Bärbel fuhr auf und schaute Georg an, als habe er etwas Unerhörtes ausgesprochen.
»Na, du bist schön dumm, wenn du alles sagst, – meine Mutter weiß nie, wenn ich nachbleiben muß.«
»Wenn du aber so spät heimkommst?«
»Dann bin ich eben mit einem Freunde ein Stück mitgelaufen, oder ich habe für die Lehrerin etwas besorgt. – Man muß eben ’ne Ausrede finden!«
»Du belügst deine Mutti?«
»Das ist keine richtige Lüge, sie ärgert sich, wenn ich nachbleiben muß, und den Ärger mache ich ihr nicht.«
Bärbel starrte sinnend vor sich hin. Es wollte der Kleinen nicht in den Sinn, daß man seinen Eltern etwas Unwahres sagen dürfe. Die Mutti würde es auch sofort merken, wenn sie so spät aus der Schule kam.
»Ich würde es nicht sagen«, fuhr Georg fort, »es findet sich schon eine Ausrede. Dann darfst du mit nach der Ruine fahren. Es schadet auch gar nichts, wenn man mal schwindelt.«
Bärbel schluckte wieder an den Tränen. Die Ausfahrt, die sie nicht mitmachen durfte, bereitete ihr den größten Kummer. Wenn es möglich gewesen wäre, daß die Eltern von dem heutigen Nachsitzen nichts erfuhren, durfte sie am Sonntag mit zur Ruine fahren. Aber die Mutti paßte genau auf.
Plötzlich fing Bärbel an, in größter Eile die Strophe niederzuschreiben. Es wurde ein Geschmiere, daß die einzelnen Buchstaben kaum zu erkennen waren, und noch ehe Georg die Strophe zum zweiten Male niedergeschrieben hatte, war sie fertig. Bärbel nahm das Heft, stürmte damit ins Nebenzimmer, in dem Fräulein Fiebiger saß und korrigierte.
»Ich bin fertig«, rief sie atemlos, »darf ich nun heimgehen?«
Die Lehrerin nahm das Heft, ihre Stirn furchte sich. »Nennst du das schreiben? – Das ist geschmiert! – Du gehst sofort wieder zurück und schreibst die ganze Strophe noch einmal sauber und fehlerlos ab.«
Aufs neue tropften die Tränen aus Bärbels Augen. Georg grinste ihr entgegen.
»Aetsch – wer schnell fährt, zerbricht ein Rad, – wer langsam fährt, kommt auch zur Stadt.«
Mutlos machte sich Bärbel an die Arbeit. Nun wurde es ja doch mit der Ausfahrt nichts mehr, da konnte sie das Gedicht schön abschreiben.
Als sie endlich eine halbe Stunde nach Schulschluß das Klassenzimmer verließ, stand Georg unten auf der Straße und wartete.
»Ich hab’ auf dich gewartet«, sagte er, »wir gehen zusammen heim; wenn meine Mutter am Fenster steht und uns sieht, sage ich ihr, wir haben heute länger Unterricht gehabt. Das glaubt sie.«
Bärbel erwiderte nichts. Die Kleine war so verstört, daß ihr alles gleich war. Aber schließlich horchte sie doch auf, denn dumpfes Trommeln kam näher und näher.
»Ein Bär, – ein tanzender Bär!«
Man lief in die Nebenstraße, sah dort zwei eigenartig gekleidete Männer, von denen der eine ein Tambourin in der Hand hatte, der zweite führte einen Bären, der auf den Hinterbeinen stand und hin und her tänzelte. Für Augenblicke war Bärbels Kummer vergessen. Man lief fröhlich hinter dem Bär her, der den Weg durch die Bergstraße nahm, also geradeswegs hin zur Apotheke.
Eine Unmenge Kinder begleitete die beiden Männer, von denen der eine in die Häuser ging und Geld einsammelte.
Als sich Georg endlich von Bärbel trennte, flüsterte er der Schulkameradin zu: »Heute haben wir Glück gehabt, jetzt braucht es deine Mutter nicht zu erfahren, daß wir nachsitzen mußten. – Wir sind mit dem Bären gegangen, – das ist nicht gelogen.«