Mutter.
»So spät, Bärbel? – Bist wohl mit dem Bären mitgelaufen?«
»Ja.« Das Kind suchte eifrig in der Schulmappe und hob den Kopf nicht.
»Du sollst aber pünktlich heimkommen, mein Kind. Der Bär geht durch alle Straßen, und du weißt, wir warten auf dein Kommen.«
Bärbel hatte sich abgewandt, sie fühlte, daß ihr der Kopf glühte.
»Bekomme ich denn heute kein Küßchen, mein Kind?«
Scheu kam das Kind heran. »Aber, Goldköpfchen, du siehst so erhitzt aus, bist du so sehr gelaufen?«
»Ich bin mit dem Bären mitgegangen.«
In demselben Augenblick wurde Frau Wagner gerufen, da das Essen fertig war. Weil sie stets selbst die letzte Hand anlegte, ging sie rasch davon; Goldköpfchen atmete erleichtert auf.
Trotzdem konnte das Kind heute nicht froh werden. Es mied die Nähe der Mutter, beschäftigte sich mehr denn je mit den Zwillingsbrüdern und ließ von Zeit zu Zeit das Köpfchen hängen, denn im Innern rief eine Stimme: Bärbel, was hast du getan?
Gewaltsam zwang sich die Kleine, an etwas anderes zu denken. Die Schularbeiten wurden heute mit peinlicher Gewissenhaftigkeit gemacht, aber gerade dabei kam immer wieder die Erinnerung an die Unwahrheit. Trotzdem gewann es Bärbel nicht über sich, das Unrecht einzugestehen, denn der Vater hatte gerade heute so schöne Bilder von der Ruine Hohenfels gebracht, daß Bärbel unmöglich auf die Fahrt verzichten wollte.
Am nächsten Tage war sie in der Schule brav und aufmerksam. Alle Lehrerinnen wunderten sich darüber, es kam heute nicht eine einzige falsche Antwort, das Kind saß kerzengerade da; nur von Zeit zu Zeit zuckte es um den Kindermund wie von verhaltenem Weinen.
»Na«, flüsterte Georg, »hat deine Mutter was gemerkt?«
»Nein.«
»Siehst du, das haben wir fein gemacht.«
Bärbel erwiderte nichts, sie atmete schwer. Immer wieder fielen ihr Dinge ein, die davon zeugten, wie gut die Mutti war; und nun war diese gute Mutti von ihr belogen worden.
In der Pause näherte sich Georg wieder dem kleinen Mädchen. Wegen der Tauschgeschäfte, die man machte, kam es zu Streitigkeiten, Georg wurde immer dreister, und schließlich schrie er Bärbel zornig an:
»Wenn du mir morgen nicht die Pappschachtel mitbringst, sage ich deiner Mutter, daß du gestern hast nachsitzen müssen.«
Bärbel erschrak und versprach die verlangte Schachtel.
Die Schachtel wurde auch wirklich gebracht, der Provisor Senftleben hatte einen Seifenkarton ausgeräumt und ihn der Kleinen ausgehändigt. Aber Georg Schenk erkannte, daß er jetzt ein feines Mittel hatte, um Bärbel zum Herausgeben von allerhand ihm nützlich erscheinenden Dingen zu bewegen. Vor allen Dingen hatte es ihm der Federhalter angetan, in dem ein Loch war, durch das man ein Bild sah.
»Wenn du mir deinen Federhalter nicht gibst, sage ich deiner Mutter, daß du sie belogen hast.«
»Den Federhalter habe ich von meiner Großmama.«
»Na, meinetwegen, brauchst ihn mir ja nicht zu geben, aber deine Mutter muß es doch wissen, daß du nachgesessen hast.«
So wurde das kleine Kinderherz gepeinigt. Immer fester zog Georg die Schlinge zu, und Bärbel wußte in seiner Herzensangst nichts anderes zu tun, als sich vom geliebten Federhalter zu trennen.
Aber es kam noch schlimmer. Georg brauchte Geld und forderte von Bärbel, sie solle ihm fünfzig Pfennige geben. Damit sollte sich Bärbel sein ewiges Stillschweigen erkaufen.
»Ich habe kein Geld!«
»Dann laß dir was geben. Der Provisor hat doch die Kasse.«
»Ich hab’ kein Geld«, rief Bärbel leidenschaftlich.
»Bring es mir morgen mit!«
Georg ließ nicht nach, und als Bärbel am Freitag heimging, fühlte sie sich so unglücklich, daß sie am liebsten laut geweint hätte.
Fünfzig Pfennige! – Woher sollte sie das viele Geld nehmen? Wenn doch erst der Sonntag vorüber wäre, dann wollte sie ganz gewiß der Mutti alles sagen. Aber auf die Fahrt nach der Ruine wollte sie nicht verzichten. – Wenn sie morgen das Geld nicht mitbrachte, kam der Georg in die Apotheke und erzählte alles. Er würde auch sagen, daß sie das Geschenk der Großmama weitergegeben hatte, und würde dadurch die Mutter noch mehr erzürnen.
Fünfzig Pfennige! Wer gab ihr diese Summe?
Ob sie sich deswegen an den Onkel Provisor wandte? Nach langem Überlegen tat sie es.
»Wozu brauchst du das Geld, Goldköpfchen?«
»Ich brauche es eben.«
»Nein, Kind, dann kann ich dir nichts geben. Geh zum Vati.«
»Nur ein einziges Mal gib mir das Geld.«
»Nein, Bärbel, das darf ich nicht.«
Die Kleine überlegte ein Weilchen. Vor zwei Tagen war ein neues Hausmädchen gekommen; ob sich Bärbel an Ella wandte? Aber sie hatte zu der Fremden noch kein Vertrauen, und wahrscheinlich würde Ella auch fragen, wozu sie das Geld brauche. Vielleicht würde sie es sogar der Mutter sagen, und das war noch schlimmer.
Als Bärbel am nächsten Mittag die Küche betrat, sah es neben dem Kohlenkasten etwas blinken. Die Kleine beugte sich nieder, ein Fünfzigpfennigstück glänzte ihr entgegen.
Zuerst war Bärbel sprachlos, dann griff es nach dem Geldstück, und ein Jauchzen kam über die Kinderlippen.
Das Geldstück wanderte in den Federkasten, und Bärbel fühlte sich erleichtert und beglückt.
Am nächsten Morgen bekam Georg die fünfzig Pfennige. »Wenn du jetzt noch mal klatschen willst, bist du ein ganz gemeiner Lügner«, sagte Bärbel, als sie das Geld übergab. »Du hast gesagt, du wirst nicht mehr klatschen.«
»Was ich gesagt habe, das weiß ich«, erklärte Georg, »ich wollte ja nur die fünfzig Pfennige haben.«
Da die Fahrt nach der Ruine nahe bevorstand, nahm sich Bärbel auch heute wieder in den Stunden zusammen. Sie durfte nicht nachsitzen, sie wollte aber auch den Eltern eine Freude bereiten, wollte das eigene Gewissen beschwichtigen. Daß sie der Mutter das Nachsitzen verschwiegen hatte, war allerdings ein kleiner Stachel, der in dem Kinderherzen saß. Aber Bärbel wollte nun nicht mehr daran denken und durch Fleiß und Aufmerksamkeit dieses Unrecht wieder gutmachen. War erst die Fahrt nach der Ruine vorüber, dann sollte auch Georg seine Strafe haben, dann wollte sie sich mit ihm messen. Es würde eine regelrechte Prügelei geben, denn das kräftige Mädchen wagte den Kampf mit dem nicht gar zu mutigen Georg Schenk.
»Ich werde ihn mächtig verhauen«, sagte die Kleine in Gedanken vor sich hin und sah sich bereits als Siegerin.
»Bärbel! – Sage mir, warum die Räuber den Samariter auszogen?«
»Sie wollten ihn verhauen!«
»Bärbel, wo sind deine Gedanken?«
Goldköpfchen erschrak. Es hatte sich doch fest vorgenommen, in den Stunden immer gut aufzupassen.
»Ach – Fräulein«, sagte das Kind kleinlaut, »ich habe wirklich im Augenblick an ganz was Wichtiges gedacht.«
Fräulein Fiebiger hatte heute keinen Grund mehr, über Bärbel zu schelten, die Kleine nahm die Gedanken zusammen und paßte gut auf.
Sonnabend mittag! – Nun bestand keine Gefahr mehr, morgen ging es zur Ruine. – Wenn sich nur nicht immer in die große Freude der Gedanke an den braven Mann einschleichen wollte. Diese abscheulichen Gedichte! Richtig, – zu Montag mußten sie ja auch wieder einige Strophen auswendig lernen. Es stand im Aufgabenbuch.
Bärbel nahm sich vor, auch heute wieder alle Schularbeiten recht gut zu erledigen, sogar das Gedicht zu lernen.
So