nie die Lüge deinen Mund entweih’n.
Bärbel stutzte und hob das Köpfchen. Ihre Stirn färbte sich rot. Wieder fiel ihr die Unwahrheit ein. Hatte Fräulein Fiebiger vielleicht doch etwas gemerkt und darum gerade dieses Gedicht zum Auswendiglernen gewählt? – Laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n. Das brauchte Bärbel ja gar nicht erst zu lernen, denn diese zwei Zeilen brannten sich sofort in ihr Gedächtnis ein. Und nun weiter:
Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran.
Zuerst ein Zwerg, ein Riese hinternach.
Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an.
Und eine Stimme ruft in dir: sei wach!
Bärbels Augen wanderten von dem Buch. Ja, das Gewissen klopfte auch heute noch. Sie hatte gelogen, eine ganz winzige Unwahrheit gesagt. Wie gut, daß nun alles erledigt war, und daß diesmal kein Riese daraus geworden war.
Seufzend wiederholte sie das Gedicht. Sie brauchte es nur zwei-, dreimal zu lesen, da wußte sie Wort für Wort auswendig; ob sie wollte oder nicht, immerfort sprach eine innere Stimme: laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n!
Diese Stimme, die aus dem Gewissen kam, nahm Bärbel die Ruhe. Sie hörte es ganz deutlich, wie das Herz bei jedem Schlag sagte: laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n!
Das kleine Mädchen versank in Grübelei. »Ach, die Tauben haben es vielleicht recht gut, die können die Stimme des Gewissens nicht hören, und bei mir klopft es immerfort.«
Sie nahm die Schreibarbeit vor, hörte die Mutter im Garten, die mit den beiden Brüderchen sprach; sie sah den Vater kommen, aber sie ließ sich im Arbeiten nicht stören, emsig schrieb sie weiter.
Plötzlich hob sich der blonde Kopf. Vater und Mutter standen ganz in der Nähe der Laube und sprachen zusammen. Man schien die Nähe Goldköpfchens vergessen zu haben.
»Ich glaube«, sagte Frau Wagner, »ich werde Ella wieder entlassen müssen, sie scheint nicht ehrlich zu sein.«
»Hast du sie auf die Probe gestellt?« fragte der Vater.
»Ja, – sie hat Zucker genascht, aber dann hat sie mir Geld nicht abgeliefert.«
»O weh!«
»Ich habe absichtlich ein Fünfzigpfennigstück neben den Kohlenkasten gelegt, um ihre Ehrlichkeit zu prüfen. Heute habe ich gefragt, ob sie das Geldstück nicht gefunden hat. Ich hätte gestern einiges verloren. Ella hat verneint, und doch muß sie es gesehen haben, denn er lag gleich neben dem Kohlenkasten.«
»Das ist freilich schlimm. Unehrliche Menschen können wir in unserem Hause nicht brauchen.«
»Sie macht eigentlich einen so guten Eindruck, Erich.«
»Kann jemand andres das Geld genommen haben?«
»Nein, die Köchin war an jenem Nachmittag fort, nur Ella war in der Küche. Als ich zwei Stunden später unauffällig nach dem Gelde schaute, war es bereits fort.«
»Dann ist es wohl das beste, du läßt Ella bald wieder gehen, denn einen Dieb wollen wir nicht im Hause haben.«
Die Eltern entfernten sich, leise sprechend; aber Goldköpfchen saß wie gelähmt.
»Einen Dieb wollen wir nicht im Hause haben.« Einem schrecklichen Gespenst gleich, stand dieser Satz vor dem Kinde. Ein Dieb!
Zuerst ein Zwerg, ein Riese hinternach!
Goldköpfchen schrie entsetzt auf. Sie hatte gelogen, eine ganz kleine, winzige Unwahrheit gesprochen, nicht einmal eine Unwahrheit, sie hatte nur die Wahrheit verschwiegen. – Zuerst ein Zwerg! Und aus diesem kleinen Fehler war dann ein Diebstahl geworden. Ella wurde beschuldigt, das Geld genommen zu haben, das Bärbel an Georg verschenkt hatte. Hätte sie nicht der Mutter sagen müssen, daß sie das Geldstück gefunden habe, – hätte sie nicht überhaupt gleich am Dienstag alles gestehen müssen?
Und Ella? – Du bist ein Dieb, würde ihr die Mutti sagen, und Ella hatte doch das Geld gar nicht genommen.
Goldköpfchen hatte ein Gefühl, als bekäme es keine Luft. Die Kehle war ihr plötzlich wie zugeschnürt, hinter der Stirn stach und schmerzte es. Raschelte es nicht in den Blättern? Das Kind schrak angstvoll zusammen, die Augen weiteten sich in bangem Entsetzen.
Bärbel sprang auf und eilte aus der Laube. Wie ganz anders sah auf einmal der große Kastanienbaum aus. Der eine Ast wirkte wie ein drohender Arm, und dort die Wolke am Himmel erschien dem Kinde wie ein grimmiges Gesicht.
Lärmend kamen die Zwillinge herangesprungen und baten die Schwester, sie möge mit ihnen spielen. Die Zehnjährige schüttelte den Kopf und schlich davon, ohne die Brüder eines Blickes zu würdigen. Sie wollte Ella aufsuchen, traute sich aber nicht recht.
Einen Dieb will ich nicht im Hause haben. – Hatte der Vater diese strengen Worte gesprochen, weil er gewußt hatte, daß sie in der Laube saß? Nein, – man hatte Ella im Verdacht, und niemand wußte, daß sie selbst das Geldstück gefunden hatte.
Morgen ging es zur Ruine! Zu der schönsten Ruine mit dem verfallenen Turm.
Bärbel bohrte sich die Fäuste in die Augen. Sie wollte die Ruine nicht sehen, wollte gar nicht mitfahren, sie würde doch keine Freude daran haben, sie würde nur immerfort die Eltern ansehen müssen, würde an Ella denken und an das Gedicht.
Sie fürchtete sich plötzlich vor den Menschen und kroch ganz hinten im Garten in die Zweige eines Baumes. In dieser Einsamkeit überfiel sie grenzenloser Jammer. Es kamen keine erlösenden Tränen, aber von Zeit zu Zeit rang sich ein leises Stöhnen von den Kinderlippen.
Endlich rief man laut nach ihr. Sie wollte hastig hinabsteigen, blieb mit dem Kleidchen an einem Ast hängen und riß den Rock von oben bis unten auf.
»Es geht schon los«, sagte Bärbel mit zitternden Lippen. »Wenn man ein Unrecht begeht, kommt die Strafe knüppeldick.«
Beim Abendessen fiel den Eltern das veränderte Betragen Goldköpfchens auf. Besorgt legte Frau Wagner die Hand auf Bärbels Stirn.
»Fühlst du dich nicht wohl, Goldköpfchen?«
»Doch«, sagte die Kleine leise.
»Deine Stirn ist heiß, du machst auch sonst einen so ängstlichen Eindruck. – Hast du etwas Unrechtes getan, Bärbel?«
Das Kind stopfte ein großes Stück Brot in den Mund, um der Antwort überhoben zu sein. Es würgte an dem Brot, der Bissen wollte nicht rutschen.
»Du wirst doch nicht krank werden, mein Goldköpfchen«, sagte Herr Wagner zärtlich, »morgen soll es doch zur Ruine gehen.«
»Nein, ich werde nicht krank.« Das war in solch einem hoffnungslosen Tone gesagt, daß Frau Wagner die Tochter prüfend musterte.
»Nun, Bärbel, ich denke, wenn du irgend etwas auf deinem Herzchen hast, wirst du zur Mutti Vertrauen haben. Nun iß, mein liebes Kind, und wenn dich etwas drückt, kommst du nachher zu mir.«
Da zitterte es wieder verdächtig um die Mundwinkel, wieder kam die verräterische Röte in das liebliche Gesichtchen, und schließlich traf ein verzweifelter Blick die Mutter, in dem unnennbares Weh stand.
Frau Wagner fragte nichts mehr. Es war ihr klar, daß im Herzen Bärbels ein Aufruhr tobte. Bis jetzt hatte ihre Tochter stets am Abend vertrauensvoll ihre kleinen Schwächen gebeichtet; auch heute würde es wohl nicht anders sein. Jetzt wollte sie Bärbel nicht quälen.
»Sie kommt von selbst«, flüsterte Frau Wagner ihrem Gatten zu.
Nach dem Abendessen tobte und lachte Bärbel nicht wie sonst. Die Zwillinge wurden zu Bett gebracht, Bärbel erbot sich, dabei zu helfen.
»Laß nur«, wehrte Frau Wagner ab, »geh’ lieber noch ein Weilchen in den Garten, Kind, aber in einer Stunde kommst du herein.«
Bärbel ging. Sie sprang nicht fröhlich umher, sie schlich an den Fenstern der Küche vorüber und schaute nach Ella aus, die unter