es geschehen.«
»Das ist langweilig«, sagte Martin gähnend, »da will ich lieber schlafen.«
»Gut«, sagte Bärbel, »dann singe ich dich ein.«
Erst sang sie mit halblauter Stimme das Lied vom Tannenbaum und nach kurzem Überlegen:
»Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch, aber lieb, aber lieb sind sie doch!«
Sie überzeugte sich, ob der Bruder endlich schlief, dann kleidete sie sich leise aus, legte sich in die Kissen und war bald eingeschlafen.
Anita Schleifer
Im Wagnerschen Hause feierte man wieder einmal Geburtstag. Die Hausfrau stand vor dem gabenbesetzten Tische, umringt von den Kindern und freute sich der hübschen Handarbeit, die von Bärbels geschickten Händen gefertigt worden war.
Goldköpfchen war über das Lob sehr erfreut. Mit Eifer und Ausdauer war an der Decke gestichelt worden, das Werk also gut gelungen. Auch die Gedichte, die man aufsagte, klappten, weder Bärbel noch die Zwillinge blieben stecken.
Kuno, der jüngere Zwilling, umarmte die Mutter immer wieder.
»Ich habe dir auch was geschenkt«, flüsterte er, »komm mal mit!«
»Bring es doch her, Kuno.«
Der Knabe lachte. »Das geht nicht, Mutti, du mußt mitkommen!«
Er nahm sie an der Hand, zerrte sie aus dem Hause hinaus in den Garten. Dort war ein riesiges Loch gegraben, in dem der Knabe fast verschwand.
»Das habe ich dir gearbeitet«, sagte er strahlend.
»Du fleißiger, guter Junge«, lobte Frau Wagner und hatte Mühe, das Lachen zurückzuhalten. Seit Tagen hatte sie den Knaben emsig im Garten arbeiten sehen. War sie in die Nähe des Loches gekommen, hatte er ihr zugeschrien, sie dürfe nicht weitergehen, es würde eine Überraschung. Nun stand die Mutter vor dem geschenkten Erdloch und sprach herzliche Worte des Dankes.
»Ich hab’ aber auch dabei gepustet«, sagte Kuno, »aber für dich habe ich gern geschuftet.«
»Und ich hab’ dir auch was geschenkt«, erklang Martins Stimme, »aber ganz was anderes als der Kuno. Ich habe dir eine schöne Geschichte geschrieben.«
Man ging ins Haus zurück; und nun brachte Martin seine Geschichte herbei, die er auf einen großen weißen Bogen geschrieben hatte. Mit blauen und roten Strichen war der Bogen umrändert, und als Überschrift standen die Worte: ich schenke meiner Mutter die Geschichte von das Fert!
Frau Wagner nahm den Bogen zur Hand, und schon nach wenigen Augenblicken schüttelte sie sich vor Lachen.
»Ist es schön?« fragte Martin strahlend.
Über ihre Schulter schaute der Gatte, dann las er laut: »Das Fert heißt darum Fert, weil der Milchmann damit fert. Dem Milchmann sein Fert heißt Fritz, weil es so viel frißt. Das Fert hat vier Beine, an jeder Ecke eins, und an der anderen Ecke einen Schwanz. Das Fert hat eine Haut, auf die der Milchmann haut, darum heißt die Haut haut. Ein Fert möchte ich nicht sein, lieber ein Hund, weil der nicht so schwer zu arbeiten braucht. Die Frau Zöllner ist ein Fert, so hat der Vati gesagt, weil sie immerzu arbeitet. Manche Leute machen aus dem Fert gute Braten und Wurst. Die Äppel, die es im Bauche hat, mögen wir nicht. Das ist meine Geschichte für die gute Mutti.«
Bärbel tadelte die Fehler, aber Frau Wagner legte der Tochter die Hand auf den Mund. Ihr liefen die Tränen über die Wangen, so lachte sie über die köstliche Geschichte, die mit soviel Mühe und Liebe niedergeschrieben war. Der Stolz leuchtete aus ihren Augen über die Kinder, die sich immer wieder bemühten, den Eltern mit ihren schwachen Kräften Freude zu bereiten.
Die Geschenke, die die Mutter bekommen hatte, wurden von den Kindern bestaunt.
»Mutti«, sagte Bärbel, »so eine Perlenkette wünscht sich die Anita auch zum Geburtstage.«
»Anita?« fragte Herr Wagner, »ist das die neue Schülerin in deiner Klasse?«
»Jawohl, Anita Schleifer. Sie bauen sich hier ein schönes Haus auf, jetzt wohnen sie noch zur Miete. O, Vati, die Anita hat immer so schöne Kleider an. Seide und dazu Schuhe aus Lack.«
»Für die Schule ist das nicht gerade das Geeignete«, meinte die Mutter.
»Sie haben eben zuviel Geld, sagt die Anita, sie kann sich das leisten. Ihr Vater verdient so viel, daß sie es gar nicht unterbringen können.«
»Deine kleine Mitschülerin scheint einen etwas großen Mund zu haben, liebes Goldköpfchen.«
»Sie hat mir schon gesagt, daß ich sie zu ihrem Geburtstage besuchen muß. Sie wohnen sehr schön, hat sie gesagt. Alles nur Samt und Seide, und goldene Stühle haben sie auch.«
»Dein Vati ist zufrieden mit dem, was er hat, und ich hoffe, daß du es auch bist, Kind.«
Diese neue Mitschülerin, die seit einigen Wochen in der Gregerschen Schule war und in Bärbels Klasse eingereiht wurde, war den Mitschülerinnen recht interessant. Man wußte, daß Anitas Vater einen Holzhandel hatte und aus einer größeren Stadt nach Dillstadt gekommen war, um sich hier eine Villa zu bauen. Da Dillstadt von ausgedehnten Waldungen umgeben war, blühte der Holzhandel, und Herr Schleifer versprach sich davon ein gutes Geschäft. Die Dillstädter erzählten freilich schon heute, daß Schleifer ein recht unangenehmer Herr sei, und daß auch Frau und Tochter die Nasen recht hoch trugen. Anita Schleifer war ein hübsches Mädchen mit dunklem Haar und blitzenden braunen Augen, gertenschlank und ein wenig geziert. Die Dreizehnjährige war von Fräulein Greger geprüft worden, und mit Bedauern hatte diese feststellen müssen, daß das Wissen Anitas sehr mäßig war. Nur mit Mühe konnte sie Anita in die fünfte Klasse einreihen. Fräulein Greger hatte Frau Schleifer geraten, sie möge der Tochter in einigen Fächern Nachhilfeunterricht erteilen lassen, damit die Dreizehnjährige von den Elfjährigen nicht gar zu sehr absteche und möglicherweise noch zurückbliebe. Frau Schleifer hatte darauf erwidert, daß ihre Tochter durch Tanz- und Sportstunden derart in Anspruch genommen sei, daß dieser Nachhilfeunterricht in Schulfächern ganz unmöglich wäre. Außerdem sei ihre Tochter ein hübsches Mädchen, das bald heiraten werde. Dazu brauche Anita nicht viel von der Schulweisheit.
So saß nun Anita Schleifer in der fünften Klasse mit Bärbel zusammen. Ihr prahlerisches Wesen und ihr elegantes Auftreten machte zunächst auf alle Mitschülerinnen einen gewaltigen Eindruck. Vor allem imponierte den Kindern das große Taschengeld, das Anita bekam, ferner die seidenen Kleider, die sie trug, und das sichere und selbstbewußte Auftreten. Gleich am ersten Tage hatten alle hoch aufgehorcht.
»Du bist Anna Schleifer«, hatte Fräulein Greger gefragt.
»Meine Eltern nennen mich Anita, mein Tanzstundenlehrer sagt ›Sie‹ zu mir. Ich bitte darum, daß ich auch hier so genannt werde.«
»Ich duze meine Schülerinnen alle, mein Kind, und besonders die, die in der fünften Klasse sitzen«, war Fräulein Gregers ruhige Antwort.
»Aber selbstverständlich, Fräulein, ich habe ja auch nichts dagegen, doch möchte ich um den Namen Anita bitten. Ich würde auf Anna nicht hören.«
Da die Schulvorsteherin wußte, daß sie bei Frau Schleifer keinen Rückhalt fand, erfüllte sie schweigend den Wunsch der neuen Schülerin.
»Du hast aber Mut«, sagte Bärbel nach Schluß der Stunde, »vor Fräulein Greger haben wir alle großen Respekt.«
Anita zuckte die Schultern. »Warum soll ich denn vor einer Lehrerin Respekt haben? Diese Leute leben von unserem Gelde, wir bezahlen den Unterricht, infolgedessen müssen sie sich nach uns richten. Kämen wir nicht her, hätte Fräulein Greger nichts zu essen.«
Bärbel hörte diese neue Offenbarung mit Staunen an. Schließlich sagte sie schüchtern: »Aber man muß doch etwas lernen, und einer muß da sein, der uns alles sagt.«
»Sie guckt ja auch nur ins Buch. Die Lehrer haben alle Bücher, in denen Fragen und Antworten fertig gedruckt stehen;