C. M. Spoerri

Unlike: Von Goldfischen und anderen Weihnachtskeksen


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Leben, meiner Vergangenheit und der nicht vorhandenen Zukunft abzulenken verstand – wenigstens für ein, zwei Stunden. Denn länger dauerte unsere gemeinsame Zeit selten. Wenn wir nicht zugedröhnt waren, waren wir berauscht von unserer Zweisamkeit. Zugegeben, keine gute Kombination – weder in die eine noch in die andere Richtung.

      Aber sie war der einzige Mensch, den ich kannte, der außer mir den Weihnachtsmist nicht mitmachte. Und gerade in dieser Jahreszeit stellte sie die beste Ablenkung dar.

      Noch eine Woche, dann wäre der Scheiß endlich vorbei, die Geschenke im Müll, die Familienfeiern überstanden und New York endlich wieder so, wie ich es mochte: laut und dreckig.

      Dann könnte ich in meinen Alltagstrott zurückfallen … zumindest so lange, bis meine Schwester sich bei mir meldete und versuchte, mich zu Plänen zu überreden, die mich von hier wegbrächten.

      Aber ich wollte nicht weg. Das hier war mein Zuhause – auch wenn ich die Stadt in diesem Lichterketten-Glitzerkleid abgrundtief hasste.

      Doch alles war besser, als in London bei meiner Schwester zu sein. Um sie herum gab es keine Entspannung – im Gegenteil. Sie hätte jedem Drill-Instructor die Tränen in die Augen getrieben und dafür gesorgt, dass er nach seiner Mutter schrie. So war sie nun mal, meine liebe große Schwester: verkappter Marine in einem Frauenkörper.

      Kein Wunder, dass das weibliche Geschlecht bei ihr Schlange stand. Jedes Mal, wenn sie mich hier in New York besuchte, stellte sie mir eine andere Eroberung vor. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen war es Erina gewesen. Oder Edana? Irgendetwas mit ›E‹, das konnte ich mir immerhin merken, da mein Name mit demselben Buchstaben begann: Evan. Aber die wenigsten nannten mich so. Wenn ich den Namen zu hören bekam, dann von meiner Schwester, bevor sie mir irgendeinen Gegenstand hinterherwarf. Blumenvasen, Kissen, Teller … alles war mir schon hinterher geflogen. Ein schlechter Scherz von Gott: Ihr flogen die Weiber hinterher, mir die Gegenstände – haha, wirklich witzig, da oben!

      Ich warf einen verärgerten Blick zum wolkenverhangenen Himmel und verfluchte wieder einmal aufs Derbste den Engel (dessen Name mir gerade nicht einfiel), der die bescheuerte Idee gehabt hatte, dieser Maria vor zweitausend Jahren einen Sohn aufzuschwatzen. Hätte der Flattermann sich damals unterwegs verirrt oder wäre beim Eindringen in die Erdatmosphäre verglüht, gäbe es diesen dämlichen Brauch jetzt nicht. Dann müssten sich nicht alle Leute Geschenke schenken, die man sich selbst niemals im Leben gekauft hätte.

      Gut, wahrscheinlich war das etwas zu ketzerisch und auch zu pragmatisch gedacht. Ich war nicht ungläubig, nein. Aber ich durfte mich ja wohl über meinen biblischen Namen aufregen, der ausgerechnet ›Jahwe ist gnädig‹ bedeutete. Was auch immer meine Eltern an dem Tag meiner Taufe geraucht hatten (und sie hatten viel geraucht!), es musste ihnen das Gehirn komplett vernebelt haben.

      Jetzt war ich dazu verdammt, mit einem Namen zu leben, den ich hasste, weil er weder zu mir noch zu meinem Leben passte. ›Gnade‹ … Scheiß auf Gnade! Es gab sie nicht. Sonst wäre ich nicht auf die schiefe Bahn geraten, nicht im Gefängnis gelandet … und Diana …

      Himmelherrgott! Das war einer der Gründe, warum ich Weihnachten hasste: Ich dachte an Dinge, an die ich nicht denken wollte, sah Bilder, die ich nicht sehen wollte! Es war schon schlimm genug, dass ich mit einem Namen herumlaufen musste, den ich verabscheute – Glitzerketten und gebrannte Mandeln machten das absolut nicht besser!

      Allen, die meinen Namen wissen wollten, sagte ich daher, ich hieße Sam. Auch ein biblischer Name, okay, aber auf Polnisch bedeutete Sam ›allein‹, und ich war gern allein. Also passte dieser Name eindeutig besser zu mir als etwas, das mit der Gnade Gottes in Zusammenhang stand.

      Ich hatte kein Problem damit, dass es einen Gott geben sollte. Wenn es ihn gab, so rechnete ich ihm immerhin hoch an, dass er ein vollkommen gechillter Typ sein musste. Denn er hatte sich seit zweitausend Jahren nicht mehr hier unten blicken lassen und kümmerte sich um seinen eigenen Kram. Ich mochte Leute, die andere in Ruhe ließen. Aber mit seinem Bodenpersonal stand ich umso mehr auf Kriegsfuß.

      Doch von meinem Namen mal abgesehen: Diese gekünstelten Bräuche gingen mir einfach auf den Geist. Sie leerten die Geldbörsen und waren sowieso nur dazu da, der Werbeindustrie in die Tasche zu spielen. Noch ehe man es sich versah, musste man sich für Dinge bedanken, die man das ganze Jahr über nicht gebraucht hatte, und an Weihnachtsessen teilnehmen, die die Bezeichnung ›Mästung‹ vollkommen verdient hätten.

      DAS ersparte ich mir alles.

      »Pass doch auf!«, herrschte ich einen Jungen an, der mir vor die Füße gelaufen war.

      Er hob erschrocken den Kopf und geweitete blaue Augen blinzelten unter einer Wollmütze hervor, ehe er laut »Mom!« schrie und zu einer Frau mit dickem Wintermantel lief, die mir böse Blicke zuwarf.

      »Junger Mann, hat man Ihnen keine Manieren beigebracht?«, tönte sie und legte eine Hand auf den Kopf des Jungen, der sich hinter ihr versteckte und mich ansah, als wäre ich ein Troll oder so.

      Ich ging wortlos an ihr vorbei und überhörte das »Weißt du, das sind GENAU SOLCHE Leute, die an Weihnachten einsam sein werden« mit einem Zähneknirschen.

      Na und? Dann gehörte ich eben zu diesen ›Leuten‹. Das war immer noch besser, als zu den Leuten zu gehören, die mit einem Haufen lärmender Kinder um sich herum krampfhaft versuchten, in Weihnachtsstimmung zu kommen. ›Leuchtende Kinderaugen‹, ›fröhliches Lachen‹, ›glückliche Gesichter‹ – pah! Das waren alles Gründe, die sich die Erwachsenen einredeten, um ihren Kaufwahn zu rechtfertigen.

      Ich wich einer älteren Dame mit drei riesigen Einkaufstüten aus und erhaschte im Vorbeigehen einen Blick auf ihr Gesicht. Sie sah nicht glücklich oder zufrieden und schon gar nicht fröhlich aus. Nein, ihre Miene war verbissen, die Lippen zusammengekniffen, die Wangen ebenso gerötet wie die Augen. Auf ihrer Oberlippe konnte ich sogar einen Schweißfilm entdecken.

      DAS war der wahre Weihnachtsgeist: Abgekämpfte alte Frauen, die versuchten, ihre Enkel zufriedenzustellen. Großmütter, die ihre letzten Cents zusammenkratzten und massenweise Geschenke für die ›lieben Kleinen‹ anschleppten. Nur um dann in zehn Jahren allein an Heiligabend vor einem kümmerlichen elektrischen Tannenbaum zu sitzen und zu ›den Leuten‹ zu gehören, weil ihre Enkel sich irgendwo in der Karibik die Sonne auf den Bauch scheinen ließen.

      Diesen Schritt übersprang ich liebend gern – vor allem blieb mir dadurch viel mehr Geld für die wirklich wichtigen Dinge im Leben: eine Flasche Alkohol, eine Tüte Gras und eine weitere (größere) Tüte von McDonald's.

      Ja, ich hörte mich wie ein Junkie an, der Junkfood aß. Aber das war nun mal mein alljährlicher stiller Protest in der stillen Nacht: stoned vor dem Fernseher zu sitzen, mich zu betrinken und ungesundes Zeug in mich reinzustopfen, während ich mir irgendeinen Schrott aus der Glotze reinzog, den ich am nächsten Tag sowieso wieder vergessen hatte. Aber KEINE Weihnachtsfilme, das war meine heilige Regel.

      Ich zuckte zusammen, als mein Handy in der Hosentasche vibrierte. Widerwillig schob ich eine Hand aus dem Jackenärmel, wo ich erfolglos versucht hatte, meine Finger aufzuwärmen (es war aber auch arschkalt!), und holte das Telefon hervor.

      Auf dem Display leuchtete eine neue Nachricht:

      Ruf mich an, wenn du das siehst!!!

      Ich musste erst gar nicht auf den Namen des Absenders schauen, um zu wissen, von wem die Mitteilung kam, da es nur einen einzigen Menschen auf dieser Welt gab, der mir Befehle mit drei Ausrufezeichen als SMS-Nachricht schickte: Carol, meine Schwester.

       Wenn man von Gott und dem Teufel spricht …

      Ohne darauf zu reagieren, steckte ich das Handy in die Tasche zurück und ging weiter. Das fehlte noch, dass ich ihr antwortete. Das würde nur ein stundenlanges Gespräch mit horrenden Kosten zur Folge haben, weil mich meine Schwester wieder zulaberte, wie toll es doch in England sei und wie schön es wäre, wenn ich bei ihr wohnen würde.

      Einen Scheiß würde ich tun! Nein, ich würde nicht nach England ziehen! Obwohl es mir rein formal keine Probleme bereitet hätte, denn ich besaß genau wie Carol