C. M. Spoerri

Unlike: Von Goldfischen und anderen Weihnachtskeksen


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Park, das berühmte Kaufhaus Macy's dekoriert zur zauberhaften Winterlandschaft, festlich geschmückte Straßen, an jeder Ecke Weihnachtssänger und … der Grund, warum ich es kaum noch erwarten konnte, dorthin zu reisen: der Weihnachtsbaum am Rockefeller Center.

      Ein mindestens fünfundsechzig Fuß hoher, meist aber noch viel höherer Baum, der mit einer fünf Meilen langen Lichterkette geschmückt wurde. Seit ich als kleines Mädchen in einer Zeitschrift den Baum zum ersten Mal gesehen hatte, war es mein größter Traum, ihn einmal in Realität zu bewundern.

      In diesem Jahr sollte mein Traum endlich Wirklichkeit werden. Vor einer Woche war ich einundzwanzig geworden und hatte von meinem Dad einen Flug nach New York spendiert bekommen. Für mich und meine beste Freundin Mary. Ich war noch nie in Amerika gewesen, und jetzt gleich für eine ganze Woche! Wahnsinn! Christmas-Shopping mit Mary. Das würde großartig werden!

      Zudem würde ich endlich Sam treffen. Den heißen, dunkelhaarigen Kerl, mit dem ich seit einigen Wochen chattete. Er hatte uns angeboten, während unseres Aufenthalts bei ihm zu wohnen. Nach kurzem Zögern hatte ich mir einen Ruck gegeben und sein Angebot angenommen. Es war endlich an der Zeit, dass ich meine Übervorsichtigkeit und den Kontrollwahn etwas ablegte. Leider musste ich Mary recht geben, die immer behauptete, dass in mir ein Kontrollmonster hause. Es hatte den größten Teil meines bisherigen Lebens bestimmt, sodass alles in geordneten Bahnen verlief. Kontrolliert und geplant. Doch jetzt wollte ich einmal etwas tun, das ganz und gar nicht zu mir passte. Meinen Horizont erweitern, Grenzen testen, über mich hinauswachsen. Mein Gott, ich war einundzwanzig Jahre alt und die Welt stand mir offen!

      Umso mehr hatte es mich erstaunt, dass es dieses Mal Mary war, die die Alarmglocken geläutet hatte.

      »Du kennst ihn doch noch gar nicht richtig. Ist das eine gute Idee? Was, wenn er ein Serienkiller ist? Wir können doch nicht bei einem wildfremden Menschen übernachten. Vielleicht hat er eine Frau und Kinder …«

      … das wären normalerweise meine Worte gewesen.

      Ich hatte sie bloß angestarrt und versucht, nicht auf die Stimme meines Kontrollmonsters zu hören, das mit dem Zeigefinger herumwedelte und Mary in allen Punkten recht gab. Nein, ich wollte das nicht hören – ich wollte ein Mal in meinem Leben unkontrolliert und spontan sein! Aber Mary hatte so lange auf mich eingeredet, bis ich ihr versichert hatte, dass ich Nachforschungen anstellen würde, ehe wir losflogen.

      Deswegen riss ich mich jetzt von den New Yorker Weihnachtsbildern los und begann mit der Suche nach Sam in der Stadt, die niemals schlief. Ich hatte es so lange vor mir hergeschoben – aus Angst, dass ich beim kleinsten Zweifel auf das Kontrollmonster in mir hören und die Reise nicht antreten würde. Aber es war schon später Nachmittag und morgen Früh ging unser Flug, also musste ich jetzt endlich mein Versprechen Mary gegenüber einlösen und mit der Recherche beginnen.

      Als Erstes fand ich über Google Earth Sams Wohnhaus. Es lag in einem heruntergekommenen Quartier in der Bronx – das für seine Kriminalität bekannt war, wie mir ein Blick auf die New Yorker Reiseseite verriet. Großartig. Vielleicht hatte Mary doch recht und Sam war ein Triebtäter … Aber ich würde das schönreden. Irgendwie ...

      Mein Kontrollmonster holte tief Luft, um mir vor Augen zu führen, wie strohdumm ich mich verhielt, wie unvernünftig und leichtgläubig. In solchen Moralpredigten war es Weltklasse! Aber ich blendete die Stimme aus, indem ich an die Worte dachte, die Sam mir geschrieben hatte: ›Mach keine Listen, und schon gar keine Wunschlisten. Wünschen sollte man folgen und sie erleben. Es ist zu schade, sie bloß auf Papier festzuhalten.‹

      Hach … er war ja so romantisch …

      Ich warf einen verträumten Blick auf das Bild, das ich mir von der Dating-Plattform heruntergeladen und ausgedruckt hatte. Es stand nun eingerahmt neben meinem Laptop. Darauf war Sam zu sehen – wie er über die Straße ging. Irgendwo in New York.

      Seine blauen Augen waren aufmerksam auf den Verkehr gerichtet, das dunkle, halblange Haar verwuschelt. Der Bartschatten stand ihm ebenso gut wie sein grauer Kapuzenpulli. Sein Kinn war markant, seine Nase gerade. Es war ein Schnappschuss aus seinem Leben, wie er mir im Chat berichtet hatte. Ein Freund hatte das Foto geschossen und seither verwendete er es als Profilbild. Er hatte mir noch weitere Bilder geschickt, aber dieses hier mochte ich am liebsten.

      Nein, der Kerl war kein Triebtäter. Zudem passten so viele unserer Interessen zusammen, dass es beinahe unheimlich erschien. Aber Dating-Plattformen logen nicht, daran glaubte ich fest. Einige meiner Freundinnen hatten sich sogar in Chatforen verliebt und lebten glücklich mit ihrem Freund oder gar Ehemann zusammen.

      Der Plattform zufolge war Sam ein fünfundzwanzigjähriger Student, der in New York als Schauspieler durchstarten wollte und im Moment als Pizzakurier sein Geld verdiente. Mit seinem Aussehen hätte er auch eine Modelkarriere anstreben können – er war wirklich heiß … zumindest in meinen Augen. Wahrscheinlich hätten ihn viele als zu schmächtig oder zu drahtig empfunden, aber ich stand nun mal auf solche Typen.

      Aber … vielleicht war der Sam, mit dem ich gechattet hatte, gar nicht der Kerl da auf dem Bild … womöglich hatte er einen Bierbauch und war fünfzig Jahre alt. Vielleicht war das der Grund, warum er nicht mit mir hatte skypen wollen – und seine Entschuldigung, er hätte keine Webcam, bloß eine Ausrede?

      Mist!

      Mary hatte mich angsteckt und das Kontrollmonster in mir wieder lauter werden lassen, obwohl ich es einfach nur ein Mal in meinem Leben zum Schweigen bringen wollte!

      Ich atmete tief durch und gab die Wohnadresse, die Sam mir angegeben hatte, in ein Online-Telefonbuch ein. Vielleicht fand ich seinen Namen ja und konnte mich vergewissern, dass er auch wirklich dort wohnte.

      Leider musste ich wenige Sekunden später feststellen, dass kein Sam in der angegebenen Straße zu Hause war. Dafür gab es vier andere Einträge zu dieser Hausnummer.

      Mist!

      Der würde mir einiges zu erklären haben, wenn ich das nächste Mal mit ihm chattete – was in ein paar Minuten sein würde, denn morgen früh ging unser Flug. Ich hatte ihm noch meine Handynummer geben wollen. Nun war ich mir nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war …

      Gut, wahrscheinlich war ich wirklich zu blauäugig an das Ganze herangegangen und hatte einfach so dringend etwas Spontanes, Unberechenbares machen wollen, dass ich auf die kleinsten Anzeichen nicht geachtet hatte.

      Das Kontrollmonster in mir nickte bei diesem Gedankengang zustimmend und begann sich aufzuplustern, aber ich schubste es in die hinterste Ecke meines Gehirns.

       Ruhig jetzt. Nachdenken.

      Ich strich mir meine braunen Haare hinter die Ohren und fuhr mir dann mit beiden Händen über das Gesicht.

      Okay. Vielleicht hatte Sam seine Telefonnummer einfach nicht ins Adressbuch eintragen lassen. Diese Chance ließ ich ihm. Nicht jeder wollte für jedermann im Internet auffindbar sein. Eine logische Erklärung, oder?

      Das Kontrollmonster grummelte in seiner Ecke vor sich hin.

      Ich ließ meinen Blick über den Bildschirm vor mir wandern, bis er an einer Telefonnummer hängen blieb, die zu einer Frau gehörte: Margaret Walker. Den Daten zufolge wohnte sie im selben Haus wie mein vermeintlicher Sam.

      Sollte ich sie anrufen?

      Vielleicht konnte sie mir sagen, ob es überhaupt einen Sam in ihrem Haus gab – und ob der annähernd so aussah wie auf dem Foto.

      Erneut betrachtete ich sein Bild. Er sah so gut aus … und gleichzeitig irgendwie verletzlich. Eine Kombination, die in mir regelrechte Hormonschübe auslöste und mein angeborenes Helfersyndrom ins Unermessliche steigerte.

      Hilf ihm, umarme ihn, küss ihn … gut, erwischt: Ich hatte mir heimlich bereits ausgemalt, dass wir uns beim Rockefeller Center vor dem Weihnachtsbaum zum ersten Mal küssen würden. So richtig kitschig, mit Weihnachtsmusik in den Ohren, während Schneeflocken auf uns herunterrieselten. Vielleicht würden wir eine Runde Eislaufen. Es gab dort schließlich eine Eisbahn. Okay, womöglich hatte ich zu viele Weihnachtsfilme geschaut. Aber in mir