C. M. Spoerri

Unlike: Von Goldfischen und anderen Weihnachtskeksen


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hatte.

      Carol lebte schon seit einigen Jahren in London und war der felsenfesten Überzeugung, dass mir ein Tapetenwechsel guttun würde – endlich raus aus den alten Mustern … zugegeben, bis zu einem gewissen Grad hatte sie schon recht damit, dass ich in Mustern festgefahren war. Aber ich brauchte nun mal Strukturen, um auf dem richtigen Pfad zu bleiben und nicht wieder in die Kleinkriminalität abzudriften (wow, meine Psychiater wären stolz auf so viel Einsicht!). Und sowieso … ob ich mir Carols Muster antun wollte, war eine ganz andere Frage.

      Ich blickte über die Straße, die mir in den letzten fünf Jahren so vertraut geworden war. Hier war ich jetzt zu Hause. In einem Wohnblock in der Bronx. Hier wusste ich, dass mich alle in Ruhe ließen. Nun ja, von der alten Miss Walker im Erdgeschoss des Hochhauses mal abgesehen. Die schien den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als mir aufzulauern – und just in dem Moment vor der Tür zu stehen, wenn ich den Müll rausbrachte, Zigaretten kaufen ging oder mich mit meinen Kumpels traf.

      Da ich sehr wenige Kumpels hatte und Müll mich nicht sonderlich störte, waren es vor allem die Zigaretten, die mich aus der Wohnung trieben. Oder meine Anstellung als Pizzakurier, der ich seit fünf Jahren nachging.

      Ich mochte meinen Job. Ich mochte es, unterwegs zu sein und meinem Voyeurismus zu frönen, wenn ich eine Zustellung machte und in fremde Wohnungen kam. Was ich in den fünf Jahren schon alles gesehen hatte, würde wahrscheinlich die gesamten Klatschblätter von Amerika ein Jahr lang füllen.

      Die Arbeit in der Pizzeria brachte nicht viel Geld ein und, da ich nicht der gesprächigste Kurier war, auch nicht viel Trinkgeld. Aber es reichte, um die Monatsmiete zu bezahlen. Zudem war es das Einzige gewesen, was ich ohne richtige Ausbildung und mit einer Strafakte, die für mein Alter schon viel zu dick war, hatte bekommen können. Ich war froh, dass Antonio mich damals bei sich eingestellte, und hatte auch nicht vor, den alten Italiener zu enttäuschen.

      Diese Zeiten lagen hinter mir.

      So ein Mist, ich dachte schon wieder an die Frau, die ich erfolglos seit fast acht Jahren zu vergessen versuchte. Vergebens. Meine Vergangenheit holte mich immer wieder ein, wenn ich nicht aufpasste und aktiv etwas gegen die Bilder in meinem Kopf unternahm. Wie Alkohol zu trinken, zu kiffen, mit meiner namenlosen Geliebten Sex zu haben … oder eben zu arbeiten. Vor allem arbeiten. Denn mein Job lenkte mich am zuverlässigsten von all dem Scheiß ab, der hinter mir lag und mir diese elenden Schuldgefühle bereitete … diese Scham … diesen Schmerz …

       Falsche Gedanken. Falsche Gefühle.

      Ich musste mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren! Schließlich war ich lange genug bei Psychiatern ein und aus gegangen, um dies zu kapieren.

      Also: Hier und jetzt stand ich vor der Fassade des alten Wohnblocks, in dem sich meine Wohnung befand.

      Ich zögerte einen Moment. Drinnen erwarteten mich nichts als Melancholie, Bier – und Toni. Nein, so hieß nicht meine aufblasbare Sexpuppe, sondern mein Goldfisch. Da ich nicht wusste, ob es ein Weibchen oder ein Männchen war, hieß der Fisch einfach Toni, denn diesen Namen konnte man für beide Geschlechter verwenden. Genauer gesagt war es Toni Nummer 3. Seine Vorgänger hatten beide nicht lange in dem runden Glas durchgehalten.

      Ich kramte in meiner Jackentasche nach dem Hausschlüssel. Gerade als ich ihn endlich in der Hand hatte, ging die Tür auf – und der viel zu weiblich aussehende Nachbar namens Hannes trat heraus. Er hatte deutsche Wurzeln, was auch seinen dämlichen Namen erklärte. Hannes Schmidt. Wie zum Teufel konnte man nur so heißen? Ich hätte mir sofort ein Pseudonym zugelegt. Allein das Buchstabieren jedes Mal, wenn jemand den Namen wissen wollte, wäre mir zu sehr auf die Eier gegangen. Denn Hannes bestand darauf, ›Hannes‹ genannt zu werden (dämlicher Typ!).

      Seit ich meinen Hannes-Nachbarn einmal beim Rumknutschen mit einem Mann vor der Haustür erwischt hatte (ja, ›erwischt‹, denn er war so peinlich berührt gewesen, als hätte ich ihn bei einem Pornodreh überrascht), war meine Vermutung bestätigt, dass er schwul war. Das wiederum erklärte, warum er sich in meiner Gegenwart etwa so verhielt wie ein kleines Mädchen vor dem Eisverkäufer.

      Auch jetzt sah er mich mit großen Augen an und seine Wangen röteten sich auf ungesunde Weise. Vielleicht war er aber auch einfach nur erkältet. Diese Chance ließ ich ihm.

      »Evan, hi!«

      Gut, es gab noch jemanden, der mich ›Evan‹ und nicht ›Sam‹ nannte: Hannes.

      »Hi«, antwortete ich kurz angebunden und versuchte mich an ihm vorbeizudrücken, um ins Haus zu gelangen.

      »Was läuft?« Hannes trat leider nicht zur Seite, sondern strich sich eine seiner blonden Haarsträhnen zurück und sah mich erwartungsvoll an. Er war ein bisschen kleiner als ich, was aber nichts Außergewöhnliches darstellte. Ich überragte die meisten Leute und hatte mich daran gewöhnt, dass sie zu mir aufsahen – obwohl es meiner Meinung nach hier oben nicht viel zu sehen gab.

      Diese Meinung schien Hannes allerdings nicht mit mir zu teilen. Er sah mich so gespannt an, als hätte er mir die Quizfrage des Jahrhunderts gestellt. Ich konnte förmlich die Jeopardy-Musik in meinen Ohren hören.

      Wollte er das jetzt wirklich durchziehen? Smalltalk mit mir führen? Er müsste mittlerweile wissen, dass ich quasi der Smalltalk-Grinch war. Schließlich wohnten wir seit fünf Jahren Tür an Tür.

      »Läuft«, brummte ich. »Gehst du mal zur Seite?«

      Hannes sah mich mit dunklen Kulleraugen an, die wahrscheinlich das Herz einer Tierschützerin an ein Robbenbaby erinnert hätten – bei mir verfehlte sein Blick allerdings diese Wirkung. Ich mochte keine Robben, die stanken zu sehr.

      »Ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Lust hast, bei mir zu essen?«, sagte er in derart bedürftigem Tonfall, dass mir fast übel wurde.

      »Essen?«, wiederholte ich. »Danke. Mein Kühlschrank ist voll.«

      »Aber …«

      »Was?!« Ich sah ihn entnervt an. »Ich habe keine Lust auf Gesellschaft, okay?«

      Hannes zuckte kurz zusammen, aber dann streckte er den Rücken durch und straffte die Schultern. »Ich habe Gäste«, wagte er einen weiteren Versuch. »Und ich dachte, sie könnten sich vielleicht mit dir anfreunden.«

      Ach du heilige Schweinekacke! Jemand musste sein Gehirn zu heiß gewaschen haben, anders war dieser plötzliche Kuschelmodus nicht zu erklären. Ich brauchte keine Freunde und ich hatte keine Lust auf seine Gäste! Was war bloß mit ihm los, dass er plötzlich glaubte, ich würde mich als Anstandsdame eignen?! Wenn er Leute zu sich einlud, war das ganz allein sein Problem. Nicht meins. Ich hatte genug eigene Probleme.

      »Nein.« Ich sah ihn mit schmalen Augen an. »Und jetzt geh zur Seite.«

      Auch wenn Hannes aufdringlicher als eine Stechmücke sein konnte, so schien er immerhin zu merken, dass er mich heute weder zu einem romantischen Dinner noch zu einem Kaffeekränzchen mit irgendwelchen Freaks überreden konnte. Ja, Freaks – denn niemand sonst verbrachte freiwillig Zeit mit diesem Spinner. Definitiv nicht.

      Er trat zur Seite und gab den Weg frei.

      »Schade …«, murmelte er noch, als ich an ihm vorbeiging.

      Nein, hier war gar nichts schade! Ich wollte einfach nur in mein kleines Apartment, mich aufs Sofa setzen und mir bis spät in die Nacht irgendwelche Talkshows reinziehen, während ich meinen Biervorrat killte – oder Situps und Liegestütze machte, was wahrscheinlich die gesündere Alternative wäre.

      Dass Hannes plötzlich solche Anwandlungen zeigte, musste eindeutig daran liegen, dass dieses beschissene Weihnachtsfest näher rückte.

      Ach, ich HASSTE diese Weihnachtszeit!

      Ach, ich LIEBTE diese Weihnachtszeit!

      Ich saß in meinem Londoner Einzimmerapartment vor dem Computer und surfte mit verträumtem Blick durch diverse Webseiten. Sah mir Bilder und Reiseberichte über New York an und kam