Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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von Wiggenheim, wir verdienen zwar keine 1.000 DM die Stunde, aber unsere Zeit haben wir auch nicht gestohlen. Hören Sie also genau zu, ich sage das jetzt nur einmal. Sie haben genau zwei Möglichkeiten. Erstens, Sie sagen uns sofort die Wahrheit, oder wir brechen Ihre Arbeit hier ab und Sie begleiten uns augenblicklich zur Befragung mit aufs Revier. Dann besorgen wir einen Durchsuchungsbefehl und stellen nebenbei Ihre Bude so auf den Kopf, dass Sie hier anschließend nichts mehr wieder finden.«

      Swensen bläst die Backen auf und lässt unüberhörbar Luft entweichen. Von Wiggenheim steht unentschlossen vor ihnen.

      »Welche der Möglichkeiten ist Ihnen lieber, Herr von Wiggenheim?«, zischt Hassanzadeh hinterher.

      »Ihr Benehmen wird Konsequenten haben, meine Herren!«, antwortet Wiggenheim in einem scharfen Ton. Hassanzadeh tritt übergreifend nah neben ihn und führt seinen Mund dicht an sein Ohr.

      »Glauben Sie mir, das mit dem Beschweren haben schon ganz andere versucht. Ich garantiere Ihnen, es klappt nicht. Denken Sie lieber an die vielen 1.000 DM, die Ihnen durch diese sture Haltung verloren gehen.«

      Auf Wiggenheims Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Dann dreht er sich ruckartig um die eigene Achse und eilt er auf eine Tür zu.

      »Bitte folgen Sie mir!«, ruft er von dort, winkt die beiden Kriminalisten in einen Nebenraum und schließt die Tür.

      »Ich möchte, dass meine Aussage unbedingt vertraulich behandelt wird, auch meine Frau darf vom Inhalt unseres Gesprächs nichts erfahren.«

      »Ihre Frau?« Swensen spielt den Erstaunten.

      »Wird alles vertraulich behandelt, oder nicht?«

      »Natürlich.«

      »Also gut! Ich war am 16. November in St.Peter-Ording. Ich habe die Leiche im Watt entdeckt, die Fotos gemacht und sie dann an die Kripo Husum geschickt. Ich wollte da einfach nicht mit rein gezogen werden.«

      »Nicht rein gezogen werden?« Swensen setzt eine nachdenkliche Mine auf. »Ich verstehe nicht ganz, Herr von Wiggenheim. Sie haben eine Leiche gefunden und das nicht sofort den Behörden gemeldet? Da besteht aber schon Erklärungsbedarf.«

      »Meine Frau weiß nichts von meinem Aufenthalt in St. Peter-Ording.«

      »Ja, und? Dann erfährt sie das eben jetzt.«

      »Sie haben mir volle Vertraulichkeit zugesichert.«

      »Was ist daran so überaus vertraulich, Herr von Wiggenheim?«

      Von Wiggenheims Blut weicht aus seinem Gesicht. Seine Augen treten hervor und die Stimme scheint mit einem Mal belegt zu sein.

      »Ich hab mich mit einer Geliebten in St. Peter getroffen.«

      »Wie rührend!«, zischt Hassanzadeh. Swensen bringt seinen Kollegen mit einem unmissverständlichen Blick zum Schweigen.

      »Ich hätte jetzt gern die ganze Wahrheit.«

      »Das ist die ganze Wahrheit. Ich war mit meiner Geliebten in St. Peter. Am 16. bin ich allein zum Fotografieren ins Watt raus. Dort hab ich die Leiche gefunden, die Fotos gemacht und sie Ihnen geschickt. Was hätte ich denn machen sollen? Ich bin da ohne mein Zutun in eine ziemlich missliche Lage hineingeraten. Wenn ich gleich zur Polizei gegangen wäre, hätte meine Frau mit Sicherheit von meinen Verhältnis erfahren. Das musste ja nicht sein.«

      »Und Ihre Geliebte, haben Sie ihr etwas davon gesagt?«

      »Natürlich nicht!«

      »Gibt es sonst noch etwas, was wir nicht wissen?«

      »Nein!«, sagt von Wiggenheim schroff.

      »Waren das alle Bilder, die wir bekommen haben?«

      »Nein! Ich hab die Besten ausgewählt. In meinem Layoutschrank liegen noch einige.«

      »Worauf warten Sie? Die Bilder bitte!«

      Von Wiggenheim öffnet eine Schublade, nimmt einige Fotos heraus und legt sie auf einen Arbeitstisch.

      Schon auf den ersten Blick erkennt Swensen, dass seine persönliche Anreise sich gelohnt hat. Da liegen Fotos, auf denen deutliche Reifenabdrücke im Sand zu erkennen sind.

      Geländewagen, denkt Swensen und fragt: »Warum haben Sie uns diese Aufnahmen denn nicht mitgeschickt?«

      »Ehrlich gesagt, der Briefumschlag war einfach zu schmal. Ich hätte die da sonst so richtig reinquälen müssen. Ich hab die Besten ausgewählt.«

      »Diese Beurteilung sollten Sie lieber uns überlassen!« knurrt Hassanzadeh, und im Wort ›Sie‹ klingt ein drohender Unterton mit. Swensens Worte wirken dagegen eher loyal.

      »Herr von Wiggenheim, ich hätte gerne sämtliche Negative, die Sie in St. Peter-Ording gemacht haben. Und hinterher verraten sie mir noch den Namen und die Adresse ihrer Geliebten.«

      »Muss das sein?«

      »Ja, das muss sein.«

      * * *

      Die kalten Neonleuchten werden von den Fliesenwänden in hunderten von grellen Lichtpunkten widergespiegelt. Die beiden Gerichtsmediziner, Dr. Helmut Markgraf und Dr. Jürgen Riemschneider, binden ihre grünen Schutzkittel zu und streifen sich Mundschutz und Latex-Handschuhe über. Sie sind am Nachmittag, mit dem Auftrag eine Wasserleiche in Husum zu obduzieren, aus Kiel angereist. Auf dem Sektionstisch aus blankem Edelstahl liegt ein Frauenkörper. Der penetrante Geruch von Fäulnisgas liegt in der Luft, doch der hochgewachsene Markgraf nimmt ihn, wie immer nach einer gewissen Zeit, nicht mehr wahr. Ein Gerichtsmediziner entwickelt bei seiner Tätigkeit auf die Dauer eine gesunde Immunität gegen alles Verweste, Verbrannte und Blutige. Wegen seiner schlaksigen Körpermotorik hat sich Markgraf von seinen Kollegen den Spitznamen Pinocchio eingehandelt. Doch im selben Moment, in dem er das Skalpell ansetzt, widerlegt er diesen Anschein sofort. Mit ruhiger Hand schneidet er ein sauberes Y in die bleiche Haut, ungefähr fünf Zentimeter vom Halsansatz entfernt bis hinunter zum Nabel.

      Weich wie Marzipan, denkt Markgraf und setzt zwei weitere Schnitte vom Nabel jeweils zum linken und rechten Hüftansatz. Danach faltet er die Hautlappen auseinander. Das Innere des Rumpfs wird freigelegt. Markgraf schaltet die elektrische Knochensäge ein. Das runde Sägeblatt beginnt mit einem sirrenden Geräusch zu rotieren. Der Gerichtsmediziner setzt es am Brustbein an und lässt es von oben nach unten durch die Knochen fräsen. Das kreischende Geräusch erwischt Swensen, als er den Raum betritt. Er merkt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen und bleibt erst mal in der Tür stehen um noch einmal tief durchzuatmen. Das Ekelgefühl hat sich aber bereits im Magen festgekrallt.

      Wer ein Leben voller Weisheit führt, muss auch den Tod nicht fürchten.

      Ein Satz, der ihm verblüffender Weise jedes Mal in den Kopf kommt, wenn ihn seine Arbeit in eine Pathologie führt. Glücklicherweise kommt das, seit er seinen Dienst in Husum angetreten hat, wesentlich seltener vor als zu seiner Zeit in Hamburg. Auf der anderen Seite hatte ihn der Aufenthalt in diesen Räumen auch immer wieder fasziniert. Da war jedes Mal so ein zwingendes und unausweichliches Gefühl, das ihn am Anfang völlig verunsicherte. Erst viel später erkannte er, dass der Schrecken des Todes seine eigene Todesangst mobilisierte, eine Angst, die offensichtlich in uns allen steckt und immer erst dann ins Bewusstsein tritt, wenn der Tod zum Greifen nah vor einem liegt.

      Als Dr. Jürgen Riemschneider, der gerade das Herz gereicht bekommen hat, Swensen in der Tür nach Luft schnappen sieht, gibt er ihm ein Zeichen doch draußen zu warten. Doch der schüttelt den Kopf und tritt entschlossen an den Sektionstisch. Mit einem kurzen Blick überzeugt er sich von den leeren Augenhöhlen. Es ist die Tote von den Fotos. Die beiden Gerichtsmediziner unterbrechen ihre Arbeit, ziehen sich den Mundschutz herunter und streifen sich die blutigen Handschuhe ab.

      »Na, Jan! Musst du dir das mal wieder antun?«, sagt Riemschneider und deutet dann mit einer Kopfbewegung zu seinem Kollegen. »Dr. Markgraf kennst du noch nicht, ist erst seit kurzem bei uns.«

      »Hallo, Hauptkommissar Jan Swensen, Kripo Husum!«

      Markgraf