Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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sich das hellblaue Stück Papier und faltete es auf.

      Posttraumatische Belastungsstörung nach kriminellen Gewalttaten. Ein Gastvortrag von Prof. Dr. Hermann im ›Psychologischen Institut‹, Saal IV der Uni Hamburg. 23. Januar 1992, 20:00 Uhr.

      Erst war er stinksauer gewesen und wollte Karl Begier zur Rede stellen, ihn fragen, was ihn sein Privatleben anginge. Doch seine nächtlichen Traumattacken ließen ihn dann verstummen. Am 23. schlich er nach über zwanzig Jahren wieder auf das Unigelände. Er fühlte sich fast wie ein geprügelter Hund, als er in den Vorlesungssaal trat und das versammelte Jungvolk ihn anstarrte. Sein erster Impuls war sofort wieder umzudrehen. Nur der Anblick einer attraktiven, schon etwas älteren Rothaarigen, die allein, etwas abseits in einer der hinteren Reihen saß, hielt ihn dann doch davon ab. Die beiden Fremdkörper zogen sich an. Er steuerte entschlossen auf sie zu und setzte sich mit einem ›ist hier noch frei?‹ direkt neben sie.

      »Jetzt nicht mehr!«, entgegnete sie schnippisch.

      »’Schuldigung! Swensen, Jan Swensen. Ich bin das erste Mal hier und brauche solidarische Unterstützung. Sie sind doch auch keine Studentin, oder?«

      »Nein, ich bin glücklicherweise schon einige Jahre in Arbeit!«

      »Und weshalb sind sie dann hier?«

      »Psychologische Fortbildung, Herr Swensen, ein wenig psychologische Fortbildung!«

      Das war sein erstes Gespräch mit einer Psychologin. Nach dem Vortrag gelang es ihm sie noch zu einem Wein einzuladen und das soeben Gehörte regte ihn an, innerhalb von einer halben Stunde seinen gesamten Seelenmüll einer völlig wildfremden Frau zu erzählen. Er erfuhr ihren Namen und spürte, Anna Diete war ein Mensch, der wirklich mitfühlend zuhören konnte. Am Ende des Abends hatte er Schmetterlinge im Bauch, eine Telefonnummer aus Witzwort in Schleswig-Holstein und die Adresse einer Kollegin von Anna in Hamburg.

      * * *

      Über dem Festland geht die Sonne glutrot auf. Hinnak Hansen hat dafür keinen Blick übrig. Er nimmt die täglichen Kapriolen der Natur nur noch nebenbei wahr. Seit über fünfzehn Jahren fischt er jetzt in der Nordsee nach Krabben und Plattfischen. Ein schöner Tag wie heute verspricht um diese Jahreszeit endlich volle Netze, aber nur wenn man weiß wo man jetzt hin muss.

      Der gestrige Tag, oberhalb der Lorenzplatte, war wesentlich unangenehmer gewesen. Peitschender Regen, stark bewegte See bei 5 bis 6 Windstärken. Außerdem lief der Job so mies wie schon lange nicht mehr. Erst waren fast mehr Krebse und Knurrhähne als Krabben im Fang, so dass er und sein Gehilfe Peter Müller ewig rumackern durften dieses lästige, unnütze Zeug auszusortieren. Eine echte Affenarbeit. Und dann kam es noch dicker. Am späten Nachmittag hatten sie mit müden Knochen das Fanggeschirr beiderseits der Bordwände ausgefiert. Gerade konnten sie etwas verschnaufen, da passierte es. Die zwei ›Kurren‹ (Schleppnetze) wurden gerade erst eine halbe Stunde über den Meeresgrund gezogen, als ein mächtiger Ruck den Holzkutter in seinen Fugen erschütterte. Eines der beiden Netze war irgendwo hängen geblieben. Die Fahrt wurde aus heiterem Himmel gestoppt. Der Ausleger, ein stählerner Balken, der quer zur Fahrtrichtung über Bord hängt, zog den Kutter um 90 Grad zur Seite, wobei er unaufhaltsam nach backbord abdrehte. Gleichzeitig kippte er in eine bedrohliche Schlagseite. Hinnak Hansen schoss das Adrenalin ins Blut und mit einem blitzschnellen Griff stoppte er die Maschine. So eine Situation hatte er schon ein paar Mal erlebt und wusste daher, dass das Netz wahrscheinlich an einem alten Wrack fest hing.

      Er und Peter Müller sind ein eingespieltes Team und das kam ihnen jetzt mal wieder zu gute. Kein unnützes Wort fiel. Während sein Kollege dafür sorgte, dass der Baum nicht überschlug und beide Netze den Kahn noch mehr in Schieflage gezogen hätten, hievte er das freie Netz über die Wasseroberfläche. Das Fanggewicht am Baum wirkte wie ein Hebearm und drückte den Kahn wieder in eine annehmbare Normallage. Dann befestigten die Männer das nur halbvolle Netz an der Bordwand, damit es nicht in die Schrauben geraten konnte. Jetzt ließen sie mit der Winde den Draht aus dem Mast fallen und die Bäume knallten an Deck. Die Gefahr umzukippen war gebannt. Der Rest war schon fast wieder Routine gewesen. Hinnak Hansen manövrierte das Fischerboot gegen den Strom zurück und dann volle Kante über das festgehakte Netz. Das Ergebnis durften die beiden noch bis spät in den Abend flicken. Nach dem Chaostag beschlossen sie einen weiteren Tag dranzuhängen und blieben über Nacht draußen.

      Ein neuer Tag, ein neues Glück, denkt Hinnak Hansen. Wir sollten heute die Dooven Tide (erste Tageshälfte) voll ausnutzen.

      Er steht unrasiert im Ruderhaus und steuert seine alte ›Trude‹ seit einer Stunde Kurs Südost, Richtung Rochelsand vor Westerhever. Der siebenhundertsechzehner Deutzmotor tuckert vor sich hin. Das Log zeigt, dass er kontinuierlich neun Knoten macht. Im ganzen Raum riecht es nach Dieselöl.

      »Ist Kaffee da?«

      Peter Müller tappt verschlafen durch die Tür. Hinnak Hansen deutet ohne ein Wort auf die Kaffeemaschine, zündet sich eine Zigarette an und hält die fast leere Packung in Peter Müllers Richtung. Der schüttelt verschlafen den Kopf, schnappt sich eine am Rand leicht lädierte Porzellantasse und gießt sie halbvoll.

      »Wohin geht’s?«

      »Rochelsand!«

      »Und du meinst, da wird es besser?«

      »Merk dir eins. Ein guter Krabbenfischer braucht nur zwei Dinge damit er Krabben fängt. Erstens Intuition und zweitens noch mehr Intuition.«

      Peter Müller grinst kurz.

      »Wie lange brauchen wir noch?«

      »Schätze noch 15 bis 20 Minuten.«

      Mit dem heißen Kaffee in der Hand stiefelt er nach draußen und lehnt sich pfeifend an die Reling. Ein leichter Wind brist auf. Hinnak Hansen hat die beiden stählernen Ausleger schon abgeschwenkt. Die zwei armdicken runden Balken liegen jetzt waagerecht quer zur Fahrtrichtung über Bord. Ihre Spitzen tauchen ab und zu in die Gischt.

      Hier draußen gibt es einfach keine Langeweile, denkt Peter Müller.

      Er liebt das Meer, die gute alte Haut. Heute spiegelt sich der offene Himmel auf ihrer gekräuselten Oberfläche und färbt sie azurblau, fast kitschig, wie das so häufig besungene Bild vom blauen Meer. Ein paar hartnäckige Möwen segeln beharrlich, unterbrochen von kurzen Flügelschlägen, am Heck des Kutters. Peter Müller nimmt einen Schluck Kaffee, doch der ist bereits lauwarm. Er kippt ihn angeekelt ins Meer, steckt den Becher in die Seitentasche des Südwesters und macht sich dann daran, die Netze für den Fang klar zu machen. Das Ende, der ›Hievsteert‹, wird mit einem Tau zusammengelascht.

      Bald hat die Sonne den höchsten Stand erreicht. In der Ferne, Steuerbord voraus, kommt der Leuchtturm von Westerhever in Sicht. Das gleichmäßige Dröhnen des Dieselmotors bricht abrupt ab. Hinnak Hansen verlangsamt die Fahrt und dreht den Kutter gegen das ablaufende Wasser.

      »Man too, Man too, Peter! Wir mock dat ob Enkel (machen das zusammen)«, ruft er überdreht und stürzt aus dem Ruderhaus. »Dat warrt de gröttste Fang in de Geschicht de Krabbenfischeree.«

      Die beiden stellen sich in ihre eingefleischten Positionen und schon wird das erste Netz im rechten Winkel zum Rumpf über die Bordwand gehievt. Dann gleitet es auf der Wasseroberfläche achteraus, das zweite folgt kurze Zeit später. Die Ausleger halten die Netze beiderseits des Kutters. Die Stahltrossen rucken und die beiden schlittenartigen Gestelle an der Öffnung ziehen die Netze unter Wasser. Der Schleppvorgang über den Meeresgrund hat begonnen.

      »Ik scheer mi in de Tiet um de Putt.« (Ich kümmere mich in der Zeit um den Topf.)

      Peter Müller schnappt sich einen Spachtel und macht sich über die verkrusteten Wände des Kochkessels her. Hinnak Hansen schaut auf die Uhr, geht ins Ruderhaus zurück und dreht das Radio an um den Wetterbericht zu hören. Mit zirka vier Knoten schneidet sich der Kutter jetzt mindestens eineinhalb Stunden durch die ruhige See.

      Kurz bevor das Fanggeschirr aufgebracht wird, hat Peter Müller stets ein Kitzeln im Bauch.

      »Es ist einfach jedes Mal wieder spannend, wenn der Steert hochkommt«, denkt er, während sich die