Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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in der Sonne. Das tausendfache Kribbeln, Krabbeln und Zappeln erzeugt das typisch knisternde Geräusch. Peter Müller jubelt mit erhobenen Daumen zum Fenster des Ruderhauses hinüber. Er bugsiert das prallvolle Netz über den eisernen Auffangtrichter, löst das Tau am ›Steert‹ und die Krabbenflut rauscht hinein. Mit einem Schlag ist Peter Müllers Hochstimmung auf null. Entgeistert starrt er auf einen bleichen Arm, der aus den quirligen Schalentieren herausragt.

      »Schitt! Hinnak! Verdammichter Schitt!«, brüllt er.

      »Wat is?«

      »Ene Leik! Wi heff ne Leik an Boord!« (Eine Leiche, wir haben eine Leiche an Bord!)

      »Wat!!!«

      Hinnak Hansen stürzt aus dem Ruderhaus wie von einer Tarantel gestochen. Peter Müller trabt mit rudernden Armen auf und ab und schimpft jetzt auf Hochdeutsch vor sich hin.

      »Das darf doch nicht wahr sein, so was! Das hat vor uns noch keiner geschafft. Ne’ Leiche mit dem Netz auffischen, das ist doch gar nicht möglich!«

      »Ich würde sagen, eins zu einer Million. Ja, Glück muss der Mensch haben«, ergänzt Hinnak Hansen sarkastisch und schimpft wütend hinterher, »das hat uns jetzt gerade noch gefehlt! Und? Was machen wir?«

      »Wieso, was machen wir?«

      »Na ja, über Bord damit!«

      »Bist du völlig durchgedreht, Hinnak?«

      »Weißt du was passiert, wenn wir den Mist hier melden? Wir dürfen unseren gesamten, beschissenen Fang wegschmeißen!«

      »Hinnak, jetzt bleib mal ganz ruhig. Willst du die Leiche etwa da rausziehen, wieder über Bord werfen und dann einfach weitermachen?«

      Hinnak Hansen steht da wie versteinert, dann dreht er sich abrupt um und geht langsam auf das Ruderhaus zu.

      »Schon gut, Peter, schon gut!«, murmelt er.

      Eine halbe Stunde später legt sich das Polizeiboot ›Sylt‹ längsschiffs. Es ist dreimal größer als die ›Trude‹. Über eine Trittleiter kommen mehrere Beamte an Bord. Es ist Mittwoch, der 22. November 2000.

      * * *

      Dunkelbrauner Qualm steigt in einer pulsierenden Schlange vor ihm in den wolkenlosen Himmel. Swensen kann sich wieder an die Müllverbrennungsanlage erinnern, als er seinen rechten Blinker einschaltet. Abfahrt Volkspark, das ist richtig. Er wechselt mit seinem Wagen von der Autobahn auf die Abbiegerspur um in der folgenden Kurve mit dem Motor abzubremsen. Im Vorbeifahren sieht er ein riesiges Wandgemälde an dem grauen Betonkasten. Eine Müllkralle hält die Weltkugel in ihren Fängen. Daneben prangt die Schrift: Wir lassen sie nicht fallen.

      Das ist doch wirklich der Zynismus pur, schießt es ihm durch den Kopf, während er beim Abbremsen sachte gegensteuert. Die Ampel steht auf Rot.

      Ja der Verstand wertet eben alles was er sieht, sagt im selben Moment seine buddhistische Überzeugung und gleichzeitig hält eine Stimme in guter alter 68er Manier dagegen, aber so ist das eben. Was ist denn eine Müllverbrennungsanlage? Sie versucht Müll zu beseitigen und verteilt ihn dabei nur in der Luft. Der Müll hat sich zwar in Luft aufgelöst, ist aber immer noch da! Der Buddhist bleibt gelassen. Der Müll wandelt wie alle Materie nur seine Form! So funktioniert sie eben, die ewige Verkettung von Ursache und Bedingung. Ursachen ziehen Folgen nach sich und der Mensch steckt da mitten drin. Er hat sich in der Tat für diese Müllverbrennung entschieden und Taten bringen nicht nur Glück, sondern auch Leid hervor, Herr Hauptkommissar.

      In Hamburg kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, obwohl seine Dienstzeit bereits sieben Jahre zurückliegt. Jetzt links, dann immer geradeaus bis zur Kreuzung Bornkampsweg, dann links in die Stresemannstraße und an der liegt schon die Polizeidirektion Hamburg West. Kaum ist er allerdings einige hundert Meter stadteinwärts gefahren, ist wieder Schluss. Nichts geht mehr. Stau.

      Swensen lehnt sich zurück und beginnt, wie immer in so einer Lage, sofort mit einer Atemübung. Er lässt die Luft konzentriert ein und aus fließen. Das Klingeln seines Handys beendet die Entspannung, bevor sie noch richtig begonnen hat. Da sich auf der Straße sowieso nichts bewegt, drückt er auf Empfang.

      »Swensen!«

      »Sind Sie es, Herr Swensen? Ich kann Sie schlecht verstehen!« Susan Biehls Klostergesang klingt wie ein Anruf aus dem Vatikan.

      »Ja ich bin’s! Ich versteh’ Sie gut! Können Sie mich hören?«

      Swensen dreht sich um hundertachtzig Grad und schmunzelt über die immer absurdere Kommunikation.

      »Gerade so. Aber es geht! Wo sind Sie denn bloß?«

      »Ich bin in Hamburg. Hollmann hat mich gestern Abend noch angerufen. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Fotograf, der uns die Bilder der Leiche geschickt hat, aus Hamburg kommt. Da hab ich mich heute Morgen gleich auf die Socken gemacht, zumal meine alte Abteilung hier mir Hilfe zugesagt hat. Und was ist bei euch los?«

      »Wichtige Neuigkeiten! Frau Haman hat den alten Freund der Herbst ausfindig gemacht und ist zur Vernehmung hin. Und Herr Mielke ist im Hafen. Ein Krabbenkutter hat eine Leiche rausgezogen.«

      »Eine Frauenleiche?«

      »Ja.«

      »Mensch Susan, nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist es Edda Herbst?«

      »Weiß man noch nicht. Herr Mielke ist gerade erst los. Der Chef hat Staatsanwalt Dr. Rebinger benachrichtigt und will um halb sechs eine Pressekonferenz abhalten. Er wünscht, dass Sie dabei sind.«

      »I do my very best! Ich beeil’ mich! Bis dann!«

      »Bis dann!«

      Die Autos stehen weiterhin wie festgeschraubt. Swensen lehnt sich zurück, entspannt sich und besinnt sich auf seine Atemübung.

      »Ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich, und ruhig – friedlich, ruhig – friedlich.«

      Polizeidirektion West. Eineinhalb Stunden für fünf Kilometer, eine reife Leistung, denkt Swensen, als er mit gemischten Gefühlen die Eingangstreppe zur Mordkommission hinaufsteigt. Bis auf einen Satz neuester Computer scheint hier die Zeit stehen geblieben zu sein.

      Heinrich Karlsen steuert mit dem bekannten federnden Gang direkt auf ihn zu und drückt ihm gelangweilt die Hand.

      »Swensen, lange nicht gesehen! Wie geht’s?«

      Sein alter Chef scheint, bis auf ein paar Falten, null gealtert. Sein durchtrainierter Körper und sein kantiges Gesicht mit der leicht geknickten Nase gaben ihm schon immer das Aussehen eines Preisboxers.

      »Sehr gut, Heinrich. Was macht Hauptkommissar Begier?«

      »Der Karl, der ist seit zwei Jahren in Rente, mein Lieber!«

      »Oh, war er denn schon so alt?«

      Karlsen ignoriert die Frage, packt Swensen unsanft am Arm und zieht ihn in Richtung eines Schreibtischs in der äußersten Ecke des Bürogroßraums.

      »Ich stell’ dir Murat Hassanzadeh zur Seite. Übrigens, du weißt, dass dein Wunsch nach eigener Ermittlung von uns nicht gern gesehen wird. Warum schickt ihr uns nicht die Akte zu, wir erledigen den Job und schicken euch die Akte zurück?«

      »Genau aus dem Grund, wegen der Schickerei! Wir haben heute eine Leiche aus der Nordsee gezogen und heute Abend ist Pressekonferenz. Wäre gut, wenn ich dann ein paar Neuigkeiten hätte.«

      »Ich dachte, nur wir in Hamburg kennen Stress!« witzelt Karlsen und tritt an den Schreibtisch eines mittelgroßen Mannes im adretten Anzug mit knallbunter Seidenkrawatte. Er hat dunkelbraune Augen, kurze schwarze Haare und einen penibel gepflegten Schnurrbart. Mitte dreißig schätzt Swensen und tippt auf einen gebürtigen Iraner, Iraker oder Ägypter.

      »Das ist Murat Hassanzadeh. Murats Eltern sind damals während des Schahregimes nach Deutschland immigriert. Und das ist Jan Swensen aus Husum. Du weißt schon Murat, die Sache mit dem Fotografen.«

      Karlsen