Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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Natürlicher oder nicht natürlicher Tod. Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung.«

      »Das auch. Aber als Erstes würde mich interessieren, ob die Tote Edda Herbst ist.«

      »Es scheint Edda Herbst zu sein!« antwortet Riemschneider bevor Markgraf den Mund aufmacht. »Wir haben gehört, dass heute Vormittag ein Kollege von dir mit einem Videothekbesitzer hier war, der die Leiche identifizieren konnte.«

      Riemschneider deutet auf den unteren Halsansatz der Leiche.

      »Hier das Muttermal.«

      Dann nimmt er die rechte Hand der Toten und hebt sie etwas in die Höhe. An den Fingernägeln sind Reste roten Nagellacks zu sehen.

      »Und hier eine kleine, zirka 2 cm lange Narbe auf dem Handrücken.«

      Nachdem Swensen sich die Merkmale angeschaut hat, wendet er sich erleichtert von dem Gruselszenario ab. Sofort glaubt Dr. Markgraf, dass jetzt seine Stunde gekommen wäre. Wie für einen Bühnenauftritt bringt er sich vor ihm in Stellung.

      »Trotz der avitalen Beschädigungen ist eine Fremdeinwirkung auf den ersten Blick nicht festzustellen. Alles deutet auf Ertrinken hin. Die genaue Bestimmung der Todeszeit ist nach so langer Zeit im Wasser durch die starke Wärmeableitung kaum noch möglich. Das gilt auch für eine Bestimmung über supravitale Reaktionen, die sind genauso temperaturabhängig.«

      Swensen kneift die Augen zusammen und Riemschneider übersetzt darauf das Fachchinesisch mit knappen Worten.

      »Es gibt nur Verletzungen, die erst nach dem Tod durch Tierfraß, in diesem Fall Vögel, verursacht wurden. Zur Todeszeit können wir noch nichts sagen. Aber eins scheint sicher, wenn die Frau ertrunken ist, dann ist sie nicht vor Ort ertrunken. Auf der Vorderseite der Toten haben sich sehr starke Totenflecken gebildet.«

      »Ja, und?« Swensen schaut die Gerichtsmediziner fragend an.

      »Nun«, erklärt Markgraf mit Genugtuung, »Leichenflecken bilden sich nach dem Tod durch das Absinken des Blutes in tiefer liegende Gewebezonen.«

      »Schwerkraft, alles fällt zu Boden«, erklärt Riemschneider. »Die Leiche muss also ziemlich lange auf dem Bauch gelegen haben. Wer nach dem Ertrinken im Wasser treibt, bildet keine Totenflecken.«

      »Und was heißt das?«, fragt Swensen.

      »Nun, die Frau ist mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken. Sie muss gleich nach dem Tod längere Zeit auf festem Boden gelegen haben und erst viel später ins Wasser geraten sein. Das würde bedeuten, sie ist vorher ermordet worden!«

      »Wann wissen Sie das genau?«

      »Wir schauen uns als nächstes die Lungen näher an.«

      »Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Rufen Sie mich bitte sofort an.«

      * * *

      Susan raunt in ihrem typischen Singsang gerade ein »ich dich auch« ins Telefon und küsst geräuschvoll die Sprechmuschel, als sie Swensen neben sich wahrnimmt. Sie errötet bis unter die Haarwurzeln. Hastig legt sie auf und spielt nervös mit dem Kugelschreiber. Swensen zieht eine Folie mit Negativen aus einem Umschlag.

      »Susan, können sie dafür sorgen, dass von diesen Negativen 40x50 cm Vergrößerungen gemacht werden, jeweils drei Abzüge?«

      »Klar Herr Swensen, schon erledigt.«

      Über den Flur gehen Heinz Püchel und Silvia Haman, die ihren Chef um eineinhalb Kopf überragt, auf den Raum zu, in dem die Pressekonferenz stattfinden soll. Doch vor der Tür müssen sie warten, eine kleine Gruppe Presseleute blockiert gestikulierend den Eingang. Fred Petermann vom Lokalradio und Rüdiger Poth von der Husumer Rundschau sind Swensen bekannt. Als Püchel ihn sieht, winkt er hektisch zu ihm hinüber. Bevor Swensen reagieren kann, klingelt sein Handy.

      »Swensen!«

      »Oh, wo ist denn Ihre schöne Melodie geblieben?«, säuselt Susan.

      Swensen legt einen Finger an seinen Mund. »Jürgen, was gibt’s Neues? Wasser in der Lunge? … Aha, also eindeutig ertrunken? Okay, … gut … du bist also absolut sicher. Gut … wenn ihr die Laborwerte habt, bekomme ich sie sofort … prima, danke Jürgen, Moin, Moin!«

      Swensen schreibt auf einen Zettel ›Edda Herbst ist ermordet worden‹ und eilt zur Pressekonferenz, die bereits begonnen hat. Auf einem Podium am Kopfende des Raums sitzen sein Chef Püchel, Staatsanwalt Dr. Ulrich Rebinger und Stephan Mielke hinter einem Tisch. Vor ihnen stehen einige Mikrofone. Der Staatsanwalt ist ein stämmiger Mann mit Hängeschultern, mittelgroß mit grauen Haaren, Seitenscheitel und leichtem Doppelkinn. Er hat das Wort ergriffen und referiert dabei so umständlich über den Ermittlungsstand im Fall Edda Herbst, dass selbst bei der Darstellung des Leichenfundes auf dem Krabbenkutter die gesamte Presse schläfrig auf den Stühlen hängt. Swensen pirscht sich an Püchel heran und legt ihm den Zettel vor die Nase. Der zuckt zusammen, stößt Rebinger in die Seite und schiebt ihm den Zettel hin. Rebinger verstummt und räumt den Platz hinter den Mikrofonen für Swensen. Der setzt sich und spricht mit klarer, lauter Stimme: »Meine Damen und Herren, es gibt neueste Erkenntnisse über die Tote aus der Nordsee. Es besteht jetzt der dringende Verdacht, dass diese Frau ermordet wurde. Die genaue Tatzeit ist allerdings noch nicht bekannt, liegt aber höchstwahrscheinlich zwischen dem 13. und 17. November. Unsere bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass die Ermordete vermutlich bei St. Peter-Ording ins Watt gebracht wurde. Wir bitten die Bevölkerung deshalb um sachdienliche Hinweise. Dabei interessiert uns besonders, ob jemand in der fraglichen Zeit einen Geländewagen beobachtet hat, der auf den Strand vor St. Peter-Ording gefahren ist. Wenn sie noch weitere Fragen haben, dann fragen Sie bitte!«

      »Woher wissen Sie, dass die Frau ermordet wurde?«

      Püchel versucht mit einer kurzen Handbewegung Swensen vermeintliche Auskunftsfreudigkeit zu stoppen.

      »Genau auf diese Frage können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Auskünfte geben. Die laufenden Ermittlungen dürfen nicht gefährdet werden.«

      Den Unmutsbekenntnissen der Journalisten begegnet Heinz Püchel, indem er seine Brust aufbläht und mit ausgebreiteten Armen beschwichtigende Gesten in den Raum schickt.

      »Meine Damen und Herren, ich bitte Sie. Lassen Sie uns doch in Ruhe unsere Arbeit machen. Sie werden von uns weiter auf dem Laufenden gehalten.«

      Während die Presseleute murrend den Raum verlassen, beugt Rebinger sich zu Swensen herüber. Sein rechtes Augenlid zuckt in regelmäßigen Abständen nervös herab.

      »Herr Swensen, ich würde Sie bitten, mir Ihren Bericht schnellstmöglich zukommen zu lassen.«

      Der scharfe Unterton stößt Swensen unangenehm auf. Er empfindet ihn als persönlichen Angriff. Seine alte Aversion gegen Rebinger aktiviert sich, aber er bemüht sich um Gelassenheit.

      In seiner Antwort ist eine gewisse Süffisanz unüberhörbar.

      »Spätestens morgen Mittag liegt er auf Ihrem Schreibtisch. Versprochen Herr Dr. Rebinger.«

      Rebinger nickt, er nickt kurz zurück und sieht gerade noch, wie Stephan Mielke den Raum verlässt. Er beeilt sich ihn einzuholen und erwischt ihn kurz vor seinem Büro.

      »Heh, Stephan. Ich hab gehört, du warst mit Hajo Peters bei der Identifizierung von Edda Herbst.«

      »Es war ja sonst niemand da, der das gemacht hätte.«

      »Ist ja gut! Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen! Ist dir was an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie auffällig verhalten?«

      »Nee, eigentlich nicht!«

      Swensen sieht Mielke fragend an.

      »Denk’ bitte genau nach, Stephan!!«

      »Ach ja, zuerst wollte er auf Teufel komm raus nicht da mit hin. Ich musste ziemlichen Druck ausüben. Merkwürdig oder?«

      »Wieso?«

      »Dort war er dann mit einem Mal völlig cool!«

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