verstand sofort. Sie hatten ihn schlicht und einfach über Bord geworfen. Rasend vor Wut, weil ein schwarzer Mann sich an ein weißes Mädchen rangemacht hatte, hatten sie ihn einfach umgebracht. Gelyncht. Es war Laila nicht möglich, jemanden zu beschuldigen oder anzuzeigen, aber sie war sich sicher, dass es einer der Kellner gewesen war, zusammen mit einem gewissen zweiten Maschinisten. Die beiden hatten mehr drauf, als nur Omelette Surprise und Champagne Sherbet zu servieren oder Motoren zu warten. In der Mannschaftsmesse hatten sie Laila zuerst nur angestarrt, mit einem Ausdruck in den Augen, als ob sie befleckt wäre, dann mit einem kalten Grinsen.
Das Motto der NAL lautete »Hands Across the Sea«, aber hier schien kein Wille vorhanden zu sein, einander die Hände zu reichen, zumindest nicht einem schwarzen Musiker, der die seinen um ein unschuldiges norwegisches Mädchen gelegt hatte, ganz gleich wie sehr dieses unschuldige norwegische Mädchen das selbst gewollt hatte.
Der Gedanke, im Rockefeller Center auf einen reichen Amerikaner zu treffen, war bloß ein alberner Tagtraum gewesen, aber sie hatte ehrlich und aufrichtig gehofft, Miles Davis in einem New Yorker Club spielen zu sehen, etwas Grenzensprengendes zu erleben. Doch als sie am Pier 42 in Manhattan anlegten, brachte sie es nicht einmal über sich, an Land zu gehen, so groß war ihre Erschütterung, sie konnte weder das Birdland noch das Café Society besuchen. Obwohl sie Bård versprochen hatte, Jeans und Platten für ihn einzukaufen, lag sie die meiste Zeit weinend in ihrer Kabine. Diese Reise, die ein Triumph hätte werden sollen, endete mit einer Heimkehr in Scham.
Sechs Wochen später stellte sie fest, dass sie schwanger war.
Mehrere Jahre war sie zu Hause, mit ihrem Sohn. Bewahrte sich ihre Würde trotz hässlicher Kommentare. Es war wie ein Wiederaufleben der Piesackerei aus ihrer frühen Schulzeit, aber jetzt konnte nicht einmal Kaja mehr helfen. Besonders bei ihrer Großmutter spürte sie anfangs großen Kummer und merkte, wie Rita sie beobachtete, gleichsam alles mitverfolgte. Bisweilen dachte sie sogar selbst: Jetzt breche ich zusammen, genau wie Mutter. Fange an, Stimmen zu hören. Sie sah ein Leben in einem Sessel in Gaustad vor sich, nur unterbrochen von elektrischen Stromstößen durch den Kopf, sofern man ihr nicht einfach gleich den »weißen Schnitt« angedeihen ließ. Ein Schnitt, und für den Rest des Lebens lallendes Glück. Aber so kam es nicht. Stattdessen spürte sie eine merkwürdige Kraft. Sie war immer stark gewesen. Schüchtern und stark, gleichzeitig. Sie knickte nie ein, zerbrach nicht. Auch damals in der Schule war sie nicht daran zerbrochen. Sie wusste nicht, woher diese grundlegende Stärke kam, aber ihre Großmutter hatte jedenfalls keinen Grund, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Erhobenen Hauptes schob Laila den Kinderwagen durch die Stadt. »Der Storch hat ihn gebracht«, sagte sie, wenn die Leute sie nach dem Kind fragten.
Wie als eine Art Unterstützung hatte sie ihn nach dem König benannt, Olav. Sie wusste, er würde es nicht leicht haben im Leben. Die anderen Kinder würden ihn fragen, ob er bei der Weihnachtsaufführung den Lebkuchenmann spielte, und niemand würde etwas in sein Poesiealbum schreiben wollen – falls es die dann noch gab.
Sie bekam einen Halbtagsjob bei der Zeitung Telegrafen. Olav ging in den Kindergarten, und wenn sie abends etwas zu erledigen hatte, passte sein Großvater auf ihn auf. »Das Leben nimmt seinen Lauf«, sagte Lorang, während er die Arme um sie legte, was er oft tat. Trotzdem wusste sie sich von allen mit Blicken bedacht, die so etwas wie Mitleid darstellten. Sie war ein Mensch, dessen Leben durcheinandergeraten war. Als ihre Mutter nun also bei dem Kaffeekränzchen ihren Spott mit ihr trieb – im Scherz oder auch nicht –, sprach sie lediglich aus, was viele dachten. Wenn Laila schon nicht Königin von Norwegen geworden war, hätte sie sich zumindest eine interessantere Arbeit suchen können. Und sich kein Bankert anhängen lassen sollen. Oder noch schlimmer: einen Mulatten.
Doch einige Wochen vor der Hochzeit des Kronprinzen war etwas geschehen.
Eines Samstags war sie vor dem alten Radioschrank stehen geblieben, den Bård irgendwann in sein Kellerzimmer hinuntergetragen hatte, nachdem ihr Vater neuere, modernere Tandberg-Wunder im Wohnzimmer aufgestellt hatte, und hatte das alte, schöne Huldra-Gehäuse betrachtet wie ein Gefährt, das sie vergessen hatte, ein Rettungsboot, und plötzlich war es, als vernähme sie abermals diesen hohen, reinen Ton – einen Ruf, den sie völlig verdrängt hatte.
Eilig suchte sie die alten Miles-Davis-Platten heraus und spielte sie ab. Den ganzen Abend lang. Und nachdem sie mehrmals der gedämpften, suchenden Trompete in »My Ship« gelauscht hatte, formte sich in ihr ein Entschluss: Ich muss diese Reise zu Ende bringen. Ich bin ja nie angekommen. Womöglich hatte der Gedanke sie bereits einige Monate zuvor gestreift, denn in diesem Frühling hatte sie hintereinander zwei Postkarten bekommen. Die eine stammte von Roar, ihrem Vetter, Kajas Bruder, und kam aus Paris. »Durchbrich die Ketten, Laila, es ist Revolution!«, stand mit Filzstift in großen roten Buchstaben auf der Rückseite. Die andere war von Bård, und der Poststempel stammte aus Los Angeles. »Wie steht’s um dein Schiff?«, hatte der Bruder mit blauem Kugelschreiber geschrieben.
Am nächsten Tag begann sie mit der Reiseplanung. Olav war längst alt genug, um einige Wochen ohne sie auszukommen, und sie wusste, dass Lorang mindestens genauso gut auf ihn aufpasste wie sie selbst. Laila wollte die inzwischen hauptsächlich für Kreuzfahrten genutzte Bergensfjord auf einer ihrer wenigen Reisen über den Atlantik nach New York nehmen, und diesmal als Passagierin. Ich muss endlich einen Fuß auf Miles Davis’ Land setzen, soviel bin ich Mr. Richard Ellison schuldig, dachte sie.
Es war also etwas geschehen in Lailas Leben, und während im Fernsehen die Bilder von Sonja und Harald im offenen Wagen auf dem Weg durch die Stadt gezeigt wurden, vom Volk bejubelt, sprach sie in die Luft, oder eigentlich eher halb ihrer Mutter zugewandt: »Das war dumm, diese Sache mit dem Kronprinzen, aber ich will wieder verreisen. Nach New York. Und zwar mit der Bergensfjord.«
Plötzlich wurde es still, abgesehen von der servilen Moderatorenstimme, die murmelnd berichtete, was ohnehin zu sehen war, als säßen vor dem Bildschirm lauter Blinde, denen alles vorgekaut werden musste.
Kaja war es, die das Schweigen brach: »Da sitzt du einfach so da, völlig ruhig, und erzählst uns, du fährst nach Amerika, als würdest du mal eben zum Einkaufen runter in den Laden gehen?« Sie lachte und lachte.
Halb hatte Laila erwartet, sie würden sich über sie lustig machen. Ihr mit Warnungen kommen: »Nicht noch mehr Kinder, Laila!« Solche Dinge. Aber in Kajas Lachen hörte sie Zustimmung, und nachdem sie lange genug gelacht hatte, klatschte sie am Ende doch in die Hände: »Gewiss doch! Bravo!«
»Super«, sagte Ragnhild, »das war aber auch an der Zeit.« Sie legte Bjørg eine Hand auf die Schulter und entlockte sogar Lailas Mutter ein Lächeln. Die beiden verband seit ihrer Kindheit ein besonderes Verhältnis. In Gaustad beobachtete Laila zuweilen, wie sie ohne ein Wort zu sprechen beieinander saßen, zwischen sich die Märklin-Lokomotive, und ihre gemeinsame Zeit genossen. Als ob sie auf Reisen wären, Erinnerungen teilten. Einmal hatte Bjørg gesagt: »Die haben mir so viel Elektrizität durch den Körper gejagt, dass ich die Lokomotive da von selbst zum Laufen bringen könnte.«
Rita kam zu Laila herüber und setzte sich neben sie, rüttelte sie mit einer Hand an der Schulter. »Fein, das wird schön«, sagte die Großmutter. »Wir brauchen alle eine Arche, und die Bergensfjord ist so gut wie jede andere. Eine neue Kreuzung. Das wird die Dinge wieder an ihren Platz rücken. Das spüre ich.«
Auch Hilde, Ragnhilds Tochter, schien neidisch auf Laila zu sein, die in ein Land reiste, in dem im Jahr davor der Ausdruck »summer of love« geboren worden war, ein Land, in dem »flower power« praktiziert wurde.
»Mal ehrlich, ist das Ganze nicht ziemlich vertrottelt?« Wieder war es Rita, die auf den Bildschirm deutete, auf den Wagen, der gerade die Karl Johans gate in Richtung Schloss hinauffuhr. »Was sitzen wir hier herum und schauen uns diesen unnötigen Zirkus an? Warum schreitet die Menschheit so langsam voran? Oder, mit etwas mehr Selbstkritik: wir Frauen?« Sie stand auf. »Braucht jemand eine Mitfahrgelegenheit? Erster Halt: Gaustad.« Hilde lachte, fischte ihre blaue John-Lennon-Brille heraus wie zum Zeichen, dass sie mit Rita und Bjørg mitfahren würde. Sie nahmen auch Ragnhild mit, die Hilde in die Seite stieß und ihr irgendetwas über die Magical Mystery Tour zuflüsterte.
Kaja wollte nur die kurze Strecke bis zu Mauds Haus mitfahren. »Eine