Elke Pupke

Bansiner Fischertod


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Meinung dazu wissen. Ich glaube nicht, dass er es war. Und wer weiß, wie oft das noch vorgekommen ist. Die Leute reden nicht darüber, wenn sie glauben, einer aus der Familie hat sie beklaut.«

      »Das ist ja fies.« Anne ist empört. »Aber was denkst du denn, wie der Dieb in die Wohnungen kommt?«

      »Genau das würde ich gern herausfinden.«

       Mittwoch, 9. Oktober

      Der Sand und die Steine sind noch nass vom Regen, aber jetzt leuchten die bunten Blätter in der Sonne. Berta geht ein paar Schritte auf die Seebrücke, um an der Küste entlang und über die Ostsee zu blicken. Man kann ungewöhnlich weit sehen, wie oft in der klaren Herbstluft. Deutlich erkennt sie die Steilküste der Nachbarinsel Wollin, das polnische Seebad Misdroy, die Mole und die großen Hotelbauten in Swinemünde. Die Frau legt die Unterarme auf das hölzerne Brückengeländer und genießt den Ausblick. Sie bewundert, wie schon tausende Male in ihrem Leben, die großen, leuchtend weißen Möwen, die zwischen den Muschelschalen am Ufer picken oder flach über das Wasser schweben und beobachtet mit weniger Sympathie den riesigen Kormoranschwarm.

      Der erinnert sie an ihr eigentliches Ziel. Sie geht zurück auf die Strandpromenade, am Haus des Gastes vorbei zu den Fischerhütten am westlichen Ortsrand. Noch bevor es Bansin überhaupt gab, vor hundertdreißig Jahren etwa, standen die Arbeitsstätten der Fischer direkt am Strand entlang bis zur heutigen Ortsmitte. Dann wurden die Promenade angelegt und die Pensionen erbaut. Deren Besitzer störten sich schließlich an den einfachen Hütten mit den zum Trocknen gespannten Netzen ringsherum, an den Fischern und ihren Frauen in Arbeitskleidung und an den auf den Strand gezogenen Booten. Diesen Anblick wollten sie ihren vornehmen Gästen nicht zumuten. Noch mehr störte der Lärm, den die Fischer machten, wenn sie schon am frühen Morgen mit ihren Holzpantoffeln über die Promenade klapperten. Deshalb wurden sie mit ihren Arbeitsstätten und -geräten, mit ihren Hering pulenden und Netze flickenden Frauen und der zahlreichen, barfüßigen, lärmenden Kinderschar an den Ortsrand verbannt. Jetzt konnten die Gäste in Ruhe ausschlafen. Eine lange Baracke wurde errichtet, zur Promenade hin hat sie eine geschlossene Holzwand, das Leben spielte sich an der Seeseite ab. Dünen schützen vor der Sicht vom Strand aus und auch ein wenig vor dem Seewind. Manchmal sogar vor der Ostsee, wenn ein kräftiger Nordoststurm das Wasser auf die Küste drückt.

      Jetzt stehen die meisten der aneinandergereihten Hütten leer oder sind zweckentfremdet. Paul Plötz und sein Gehilfe Arno Potenberg sind fast die letzten Fischer, die hier noch arbeiten. Die Tür zur Hütte steht offen, ein Zeichen, dass der kleine eiserne Ofen noch nicht in Betrieb ist. Das kann aber nicht mehr lange dauern, Paul Plötz liebt die Wärme. Deshalb trinkt er Grog. Er trinkt im Sommer Grog und im Winter, wenn der alte verbeulte Kessel mit heißem Wasser ständig auf dem Ofen steht und leise vor sich hin summt. »Um die alten Knochen aufzuwärmen, damit sie nicht steif werden«, wie er Berta erklärt hat, »und um den ganzen Ärger runterzuspülen.« Berta hatte ganz automatisch und wider besseren Wissens den banalen Spruch »Alkohol löst keine Probleme« von sich gegeben und die Antwort »Das tut Tee auch nicht« schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Was soll’s? Probleme hat der Fischer genug, und wenn er die mit Alkohol leichter bewältigt, dann ist das eben so. Und Berta ist die Letzte, die ihn in dieser Hinsicht belehren darf, denn eine Menge von dem, was er getrunken hat, hat sie ihm verkauft.

      Die beiden kennen sich seit mehr als fünfzig Jahren. Schon als Plötz um die zwanzig war, hat er zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder hier gefischt. Die acht Jahre ältere Berta war Köchin in einem FDGB-Erholungsheim. Es war das Haus, das unter dem Namen Kehr wieder ihrer Familie gehört hatte, in dem sie aufgewachsen war und das nun Fortschritt hieß. »Das Einzige, was hier fortschreitet, ist der Verfall«, stellte ihre Mutter immer wieder fest. Sie wohnte noch immer im Dachgeschoss des Hauses, krank und verbittert, voller Hass auf den Staat und auf die Verwalter »ihrer Pension«. Das Gebäude verfiel vor ihren Augen, ständig waren Gäste da – Urlauber im Sommer, Kurgäste im Winter –, es war weder Zeit, noch war Geld oder Material vorhanden, es instand zu halten. Nur das Allernötigste wurde repariert und es wurde so, wie man es ihrer Familie weggenommen hatte, einfach heruntergewohnt. Bertas größter Kummer ist, dass ihre Mutter nicht mehr erlebt hatte, dass die Pension wieder in Familienbesitz gekommen und unter dem alten Namen Kehr wieder in neuem Glanz erstrahlt war.

      Die einzige Freude, die sie damals ihrer Mutter machen konnte, war frischer Fisch, den sie mit nach Hause brachte. Für Urlauber war es schwer, den oder gar einen Räucheraal zu bekommen, aber von den Einheimischen hatte jeder »seinen« Fischer. Für Berta war es die Familie Plötz. Sie hatten in der langen Baracke zwei Buden nebeneinander. Berta erinnert sich noch gut an das lebhafte Treiben hier zwischen den Dünen und den Hütten. Da lagen die großen Boote, es waren Baumwollnetze und Gummijacken zum Trocknen gespannt, Fischerfrauen besteckten die Aalangeln oder pulten Hering aus den Netzen, hier und da qualmte ein Räucherofen, dazwischen spielten die zahlreichen Kinder.

      Zeitweise hatte es über 60 aktive Fischer in Bansin gegeben. Inzwischen ist es ruhig geworden. Pauls Vater ist tot, sein Bruder hat, wie die meisten Bansiner Fischer, längst aufgegeben. Paul hat aus den beiden Buden eine gemacht, die dünne Bretterwand dazwischen herausgerissen, weshalb der Ofen jetzt auch nicht mehr an der Wand, sondern in der Mitte der Hütte steht. Er sitzt daneben in seinem alten Sessel, versucht sich eine Zigarette anzustecken und ist wütend, weil das Feuerzeug nicht funktioniert und überhaupt … »Frag gar nicht erst!«, fährt er Berta an, bevor die etwas sagen kann. »Ich hab keinen Dorsch, weil ich keinen Dorsch haben darf, verdammich. Und weil der Fischmeister hier dauernd umherschleicht.«

      »Guten Morgen! Ich will gar keinen Dorsch. Hab ich was von Dorsch gesagt?«

      »Hast du. Du willst Fischbuletten machen, hast du gesagt. Und wovon? Von Hering vielleicht?«

      »Das hab ich vor drei Wochen gesagt, da war noch keine Rede davon, dass ihr keinen Dorsch mehr fischen dürft.«

      »Kann ich was dafür, dass du deine Meinung alle Augenblicke änderst? Also keine Fischbuletten. Was denn?« Immer noch wütend wirft er das leere Feuerzeug in eine Ecke auf einen Berg alter Netze, nimmt die kalte Zigarette aus dem Mund und lehnt sich seufzend zurück. »Macht alles keinen Spaß mehr, Berta. Wir sollten erst mal einen schönen steifen Grog trinken.«

      Die Frau winkt ab und setzt sich auf einen alten Küchenstuhl. »Ist mir noch zu früh.«

      »Was meinst du? Noch zu früh am Tag oder noch nicht kalt genug?«

      »Beides. Du, sag mal, hast du was von diesen mysteriösen Einbrüchen im Ort gehört? Oder bei euch im Dorf?«

      »Einbrüche bei uns in Sallenthin? Nee, das wüsste ich. Und in Bansin? Ja, du, da war was.« Er blickt nachdenklich zu seinem Kollegen Arno Potenberg, der gerade mit einer Kiste voller Fisch hereinkommt.

      Arno ist hager und sehr groß, er muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Tür der niedrigen Hütte tritt. Alles an ihm ist groß: seine Hände, seine Füße und seine Nase. Trotzdem wirkt er nicht plump, sondern freundlich und intelligent. Sein volles blondes Haar ist gepflegt und gut geschnitten, das schmale Gesicht wird von hellen, klugen Augen dominiert. Er stellt die Kiste auf einer Bank ab. »Morgen, Berta! Braucht ihr Fisch? Wir haben zwei schöne Schnäpel, die kannst du haben. Ein paar Flundern und die Heringe will ich räuchern. Oder wollt ihr was zum Braten?«

      »Nein, lass mal! Die kannst du am Stand verkaufen, sind ja noch genug Gäste da. Die Schnäpel nehm ich gern.« Berta lächelt den Mann wohlwollend an. Er hat seit Jahren ein mehr oder weniger festes Verhältnis mit ihrer Nichte Sophie. Mit Höhen und Tiefen und einigen Unterbrechungen – Sophie hat Bindungsangst und manchmal stört es sie, dass Arno elf Jahre jünger ist. Aber Berta findet, die beiden passen perfekt zusammen.

      Den alten Fischer interessiert das Gespräch der beiden nicht sonderlich, schon seit einiger Zeit überlässt er alles Geschäftliche seinem jüngeren Kollegen. Er denkt stattdessen über Bertas Frage nach. »Arno, wer hat das neulich erzählt, dass bei ihm eingebrochen wurde und die haben das erst gar nicht gemerkt? Weißt du das noch? Das war doch irgendwie komisch.«

      »Ja.«