nie eine gute Mutter, Zärtlichkeit und Liebkosungen hat ihre Tochter kaum bekommen, selten ein freundliches Wort. Ihre Erziehung bestand darin, dass sie das Kind angeschnauzt oder verspottet hat. Noch heute scheint Evelin die Frau mehr zu fürchten, als zu lieben.
»… oder glaubst du, sie ist gar nicht freiwillig in die Ostsee gesprungen? Wurde sie vielleicht ermordet?« Gesa reißt Berta aus ihren Gedanken und spricht genau das aus, was schon die ganze Zeit als vager Verdacht über dem Stammtisch schwebte.
Sophie stöhnt: »Also wirklich, nicht schon wieder! Bansin ist doch nicht Klein-Chicago. Mir reichen schon diese seltsamen Einbrüche. Bitte, Tante Berta, beschäftige dich damit und fang nicht wieder an, einen Mörder zu suchen!«
»Was kann ich dafür? Ich erfinde die Mörder doch nicht. Und ich locke sie auch nicht her. Im Gegenteil.«
»Was denn für Einbrüche?«, unterbricht Gesa. »Ist bei euch eingebrochen worden?«
»Nein, bei uns nicht. Bei anderen im Ort.«
»Ach so.« Das interessiert sie nicht sonderlich. »Wahrscheinlich waren es die Polen.«
»Nein, wahrscheinlich waren es keine Polen«, widerspricht Berta etwas scharf. »Vielleicht war es sogar jemand, den wir kennen«, denkt sie laut über einen Verdacht nach, den sie bisher noch mit niemandem geteilt hat. »Bisher waren alle, die auf diese Art bestohlen wurden, Gäste von uns.«
»Was soll das denn heißen?« Sophie ist entsetzt.
»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ist es ein Zufall. Nun reg dich nicht auf! Andererseits – irgendwie läutet da was bei mir. Das gab es schon mal, aber das ist lange her.«
Sie sieht Gesa an, der jetzt die blanke Panik im Gesicht steht. »Du glaubst doch nicht …«, stammelt sie.
»Ich weiß nicht, ich muss noch mal darüber nachdenken, wie das war. Es ist ja immerhin … Warte mal! … jedenfalls über dreißig Jahre her.«
Sophie beobachtet die Älteren gespannt. Es freut sie, dass Gesa Huber offensichtlich in Schwierigkeiten steckt, und sie wüsste gern, in welchen. Aber leider reden die beiden nicht weiter, sehen sich nur an, die eine nachdenklich, die andere ängstlich.
Sie denken an dasselbe Ereignis im Sommer 1988.
Dass Gesa Huber blass vor Angst ist, kann man unter dem ganzen Make-up nicht erkennen, auch nicht, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. Es kann doch nicht sein, dass die Vergangenheit sie wieder einholt, gerade jetzt, wo sie meint, ihren Ruf einigermaßen aufpoliert zu haben. ›Berta Kelling hat anscheinend ein Gedächtnis wie ein Elefant‹, überlegt Gesa. ›Ob sie wohl mit ihrer eingebildeten Nichte Sophie und der anderen blöden Gans, diesem Trampel Anne Wiesner, darüber redet? Eigentlich hat sie sich mir gegenüber bisher immer fair verhalten. Aber anscheinend verdächtigt sie mich, hinter diesen Einbrüchen zu stecken. Dabei habe ich diesmal wirklich nichts damit zu tun.‹ – »Zahlen«, herrscht sie Sophie an und holt mit zitternden Händen ihr großes rotes Portemonnaie aus der billigen Handtasche. ›Ganz ruhig!‹, redet sie sich selbst in Gedanken zu. ›Erst mal hier raus. Zu Hause muss ich in Ruhe nachdenken. Wie sie mich anglotzen, diese blöden Schnepfen.‹ Noch mehr als Annes neugieriger, beunruhigt sie Bertas mitleidiger Blick.
»Was war das denn mit Gesa?« Sophie hat die Haustür hinter Evelin geschlossen und die meisten Lichter im Raum ausgeschaltet. Nur die Lampe über dem Stammtisch ist noch an und schafft eine kleine gemütliche Insel.
Berta hat sich leise mit Anne unterhalten, als ihre Nichte sich mit einer Rotweinschorle dazusetzt und das Gespräch mit ihrer Frage unterbricht. Die alte Frau überlegt einen Moment, bevor sie den beiden Jüngeren von den Vorfällen vor mehr als dreißig Jahren erzählt. Vielleicht hat es ja wirklich mit den gegenwärtigen Einbrüchen zu tun. Außerdem widerstrebt es ihr, Geheimnisse mit Gesa Huber zu haben. Auch wenn sie es sich nicht so anmerken lässt, mag sie die Frau genauso wenig wie die anderen. Dass sie so verächtlich und mitleidlos über die tote Frau Hagemeister gesprochen hat, ärgert sie ganz besonders. »Aber erzählt es nicht Evelin!«, bittet sie trotzdem. »Die hat auch so schon genug Probleme mit ihrer Mutter.«
»Ja, sie kann einem leidtun«, bestätigt Sophie. »Sie ist so schüchtern und hat überhaupt kein Selbstwertgefühl. Bestimmt, weil die Alte sie immer nur runtergemacht hat.«
»Ob sie einen Freund hat?«, überlegt Anne. »Ich hatte mal den Eindruck, da läuft was mit Ben. Aber warum sollten die beiden ein Geheimnis daraus machen?«
»Wäre doch schön. Ich finde, die beiden passen gut zusammen.« Berta, die selbst nie verheiratet war, liebt harmonische Verhältnisse. Besonders, wenn sie durch ihre Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe dazu beitragen und zwei Leute, die gut zueinander passen, verkuppeln kann. »Evelin hat bestimmt einen guten Einfluss auf Ben. Ich finde, in letzter Zeit ist er doch ganz vernünftig, oder?«
»Na ja.« Sophie ist skeptisch. Sie mag den jungen Mann, den sie nur auf Drängen ihrer Tante als Küchenhilfe und Hausmeister eingestellt hat, nicht besonders. »Nach der Abmahnung reißt er sich schon ein bisschen zusammen, zumindest ist er nicht mehr so frech zu Renate. Er geht auch nicht mehr ganz so oft raus zum Rauchen. Aber er kommt mir immer wie eine tickende Zeitbombe vor. Ein falsches Wort und er explodiert wieder.«
»Er ist eben ein bisschen impulsiv, aber doch kein schlechter Kerl«, beschwichtigt Berta. »Seine Eltern sind so herzensgute Menschen. Sie haben ihn nur ziemlich verwöhnt. Er hat nie gelernt, sich für etwas anzustrengen und mal zurückzustecken. Deshalb ist aus seinen ganzen hochfliegenden Träumen nichts geworden. Und nun fühlt er sich von der Welt ungerecht behandelt. Aber dass er sich jetzt zusammennimmt, zeigt doch seinen guten Willen.«
»Oder er will hier nicht rausfliegen, weil er in Evelin verknallt ist«, vermutet Anne, die aus Erfahrung weniger an das Gute im Menschen glaubt.
Sonnabend, 12. Oktober
Hinter der Hausecke, wo man vom kalten Ostwind geschützt sitzt, ist es noch angenehm warm. Evelin lehnt sich an die Mauer, blinzelt in die Sonne und zieht genüsslich an ihrer Zigarette.
Ben Schmied steht ein paar Schritte von ihr entfernt auf einen Laubbesen gelehnt. Der 35-Jährige ist ein mittelgroßer, schlanker Mann mit glattem, ungepflegtem Haar. Die schmale, gebogene Nase und das fliehende Kinn geben seinem Gesicht etwas Raubvogelhaftes. Er blickt sich vorsichtig um, bevor er ganz nah an die Kellnerin herantritt.
»Spinnst du?« Die Frau weicht aus, als er sie küssen will. »Die verdächtigen uns sowieso schon.«
»Was? Wieso?« Erschrocken tritt er einen Schritt zurück.
»Nein, nicht, was du denkst. Aber dass wir was miteinander haben.«
»Na und? Wär das so schlimm, wenn sie es wüssten? Dann bräuchten wir uns nicht immer zu verstecken.«
»Nein, auf keinen Fall. Dann kommen sie uns irgendwann auf die Schliche. Es läuft gerade so gut, wir dürfen nichts riskieren. Lass die glauben, wir können uns nicht leiden, das ist unsere beste Tarnung.«
»Ich weiß nicht«, murrt der Mann. »Ich glaube, du übertreibst. Niemand ahnt etwas. Die halten uns doch sowieso für ein bisschen blöd.«
Evelin nickt und lacht verächtlich. »Das sollen sie auch. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Die Alte, Berta, ist schlau. – Aber wir sind schlauer«, fügt sie zufrieden hinzu.
Ben lehnt den Laubbesen an die Wand und tritt ärgerlich dagegen. »Die hat auch Schuld, dass ich keinen Laubbläser kriege, sondern wie ein Steinzeitmensch hier mit der blöden Harke herumlaufe. ›Das Ding macht nur unnötigen Lärm und stört die Tiere …‹ Die spinnt doch, die Alte! Am liebsten würde ich alles hinschmeißen.«
»Komm, halt noch ein bisschen durch!« Auch Evelin sieht sich nach allen Seiten um, bevor sie leise und verschwörerisch auf ihren Freund einredet: »Wir haben doch schon so viel Geld zusammen. Und den Schmuck, den können wir auch noch verkaufen. Denk immer an die Zukunft, dann macht dir das alles hier nichts aus. Da