»Was regst du dich so auf?«
»Ich mag nun mal keine Hunde. Ich traue ihnen nicht.«
»Und ich traue keinem Menschen, der keine Hunde mag«, mischt sich Sophie ein, während sie die Getränke auf den Tisch stellt. Sie würde gern einen Streit mit Gesa Huber anfangen, vielleicht fände sich dann ein Grund, sie hinauszuwerfen.
Aber so schlau ist die auch. Gesa schluckt ihre Wut hinunter und hütet sich, darauf einzugehen. Sie könnte schwören, dass der Hund sie hämisch angrinst.
Sonntag, 20. Oktober
Anne hat an diesem Sonntag erstmals seit Monaten frei und mit Sophie zusammen Mittag gegessen. Sie hat extra gewartet, bis alle Gäste versorgt waren und ihre Freundin Zeit hatte. Jetzt lehnt sie sich zufrieden zurück und sieht aus dem Fenster. Der Himmel ist klar und blau, nur über der Ostsee liegt noch ein leichter Nebelschleier. Die Fähre am Horizont scheint in der Luft zu schweben, sie wirkt wie ein Geisterschiff. »Mit dem Morgennebel ist es wie mit einem Ehemann«, erklärt sie Sophie. »Wenn er sich am Vormittag verzieht, kann es noch ein schöner Tag werden.«
»Na, du musst es ja wissen«, lacht die Wirtin. Im Gegensatz zu Anne, die eine böse Scheidung hinter sich hat, war sie nie verheiratet und gedenkt auch nicht, diese Erfahrung nachzuholen.
»Trinken wir noch einen Kaffee? Wo steckt deine Tante Berta eigentlich? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.«
»Sie ist heute morgen ins Krankenhaus nach Wolgast gefahren, um eine alte Freundin zu besuchen. Eine Bekannte hat sie mit dem Auto mitgenommen.«
»Das ist doch Mist, dass es das Krankenhaus in Heringsdorf nicht mehr gibt«, entgegnet Anne. »Da konnte man immer mal schnell hingehen. Jetzt bist du als alter Mensch ohne Auto aufgeschmissen. Man muss von hier aus erst einen Kilometer zum Bahnhof laufen, dann eine Stunde lang mit der Bahn über die ganze Insel fahren, in Wolgast noch mal einen Kilometer zum Krankenhaus gehen. Und das gleiche zurück. Das ist doch eine Zumutung!«
Sophie nickt ihrer Freundin etwas gedankenversunken zu, wirft einen Blick aus dem Fenster. »Lass uns noch einen Kaffee trinken und danach ein bisschen rausgehen! Das Wetter ist so schön. Einfach mal am Strand entlang. Hier passiert doch heute Nachmittag nichts.«
»Hast recht. Ich möchte auch mal an die frische Luft. Außerdem ist Evelin hier, falls doch jemand kommt.«
Die Kellnerin, die mit am Tisch gesessen hat, läuft eifrig zur Kaffeemaschine, um ihre Chefin und deren Freundin zu bedienen. Dabei wirft sie heimlich einen Blick auf die Kasse hinter dem Tresen. Ob Sophie die wohl abgeschlossen hat? Und ob sie das Geld darin gezählt hat? Sicher nicht. Eine günstige Gelegenheit. – »Natürlich, mach dir keine Sorgen!« Sie stellt den Freundinnen die Kaffeetassen auf den Tisch und lächelt schüchtern. »Ich räume inzwischen die Gaststätte auf und poliere die Gläser. Und wenn wirklich jemand kommt, kriege ich das schon hin.«
Sophie und Anne gehen auf der Strandpromenade an der Rückseite der Fischerhütten vorbei. Kurz haben sie um die Ecke gesehen, aber am Fischerstrand ist heute Nachmittag niemand. Die Autos von Paul und Arno sind nicht da und auch kein Mensch. Nur die blau-weiße Fahne mit dem roten Pommerngreif steht einsam in den Dünen und hält die Stellung. Sie flattert in der leichten Brise und ist das Einzige, was sich hier noch bewegt.
Dort, wo die Promenade endet, gehen sie hinunter zum Strand und schlendern im feuchten, festen Sand am Ufer entlang. »Der Kapitän hat dich ja am Freitag ganz schön angebaggert«, stichelt Sophie, nachdem sie eine Weile schweigend gegangen sind.
»… der ehemalige Kapitän. Aber ja, hat er. Ist doch nett. Ich hab mich jedenfalls gut unterhalten. Sein Hund ist auch nett«, fügt sie hinzu.
Sophie lacht. »Super. Wenn das nichts ist: ein netter Hund. Und sonst?«
»Nichts sonst. Abwarten!«
»Aha.« Sophie wird ernst. »Du sag mal, was ist das eigentlich mit dieser Familie? Ich wollte Tante Berta fragen, das hab ich ganz vergessen. Sie hat mit Paul darüber gesprochen, dass Micks Vater tot ist. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist er bei einem Fluchtversuch ertrunken. Stimmt das? Weißt du was darüber?«
»Ja, klar, das ist eigentlich kein Geheimnis. Die alten Bansiner wissen das alle. Die haben zusammen gefischt: Micks Vater Ansgar, sein Onkel Boto, das ist der jüngere Bruder seines Vaters, und deren Cousin Cuno. Vor Ansgar hatte ich als Kind immer ein bisschen Schiss. Ich musste ja manchmal vom Strand Fisch holen, aber zu Ansgar bin ich nicht so gern gegangen. Boto, zu dem haben die am Strand alle Bötchen gesagt, war ruhiger und freundlicher. Ich glaube, er stand immer im Schatten seines Bruders, der hat ihn ganz schön herumkommandiert. Er hatte auch keine Frau und keine Kinder, Mick war für ihn wie ein eigener Sohn. Der weiß das auch und kümmert sich jetzt um ihn. – Und dann war da noch Cuno. Der sah genauso aus wie die beiden Brüder. Sie hatten ja auch alle den gleichen Großvater. Aber Cuno hatte einen ganz anderen Charakter. Der steckte ständig in Schwierigkeiten. Bei jeder Prügelei – nach den Tanzabenden im Meeresstrand haben die sich früher immer geprügelt – war er mittendrin, er hatte dauernd Frauengeschichten und mindestens ein uneheliches Kind im Ort. Gesoffen haben die ja alle, aber Cuno hat im Suff nur Blödsinn gemacht. Und sonst auch. Ansgar wollte ihn eigentlich nicht am Strand haben, deshalb hat er auch erst mal Maler gelernt. Aber dann hatten sie das große Boot und brauchten wohl doch einen dritten Mann. Und Blut ist eben dicker als Wasser, sagt man ja. Ich kann mir vorstellen, dass Boto ganz froh darüber war. Cuno war immer lustig, der hat die Arbeitsatmosphäre bestimmt ein bisschen aufgelockert. Ansgar hingegen war jähzornig, der konnte brüllen wie ein Ochse und immer so ernst und streng und ziemlich hochnäsig, denke ich heute. Es hieß, dass er der reichste Mann in Bansin war, aber auch sehr geizig. Seiner Frau hat er jedenfalls nichts gegönnt, die musste immer nur arbeiten. Nur für Mick, seinen einzigen Sohn, da hat er alles getan. Er wollte auch nicht, dass der bei ihm einsteigt, er sollte was Besseres werden. Ein richtiger Seemann, der auf allen Meeren der Welt zu Hause ist. – Ah, jetzt habe ich nasse Füße«, unterbricht Anne kurz ihren Monolog, als eine Welle ihre Schuhe überspült. »Aber das hat man natürlich erst später erfahren, als Kind kriegt man das ja nicht so mit. Mir hat es Tante Berta erzählt, als Ansgar gestorben ist. Er wäre bestimmt stolz auf Mick gewesen, aber dass der Kapitän wurde, hat er nicht mehr erlebt.«
Sie sind jetzt etwa einen Kilometer am Strand entlanggegangen und bleiben stehen. Links von ihnen führt eine Treppe hinauf zur Steilküste. »Wollen wir da hochsteigen oder gehen wir weiter und drehen nachher um?«, fragt Anne. »Also bis nach Ückeritz laufe ich nicht.«
»Nein, das will ich auch nicht. Ich muss ja auch zurück in die Gaststätte. Lass uns durch den Wald gehen!«
Die beiden steigen die steile Treppe hinauf und bleiben oben eine Zeit lang stehen, um ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, während sie über das Meer blicken. Anne atmet tief ein. »Ist das nicht herrlich? Man muss wirklich öfter mal die Seele in den Schoß legen und die Hände baumeln lassen.«
»… oder so«, murmelt Sophie. »Was ist denn nun mit Ansgar passiert?«, fragt sie dann, während sie langsam an der Steilküste entlang zurückgehen.
»Die waren Fischen, ziemlich weit draußen, in der Nähe von Dänemark. Das war 1988. Cuno hatte sich in Bansin mal wieder in Schwierigkeiten gebracht und wollte abhauen. Er wollte heimlich den Motor beschädigen, damit sie in Bornholm anlegen müssen. Aber Ansgar hat ihn dabei erwischt. Es kam zum Handgemenge, Cuno hat Ansgar über Bord gestoßen. Sie wollten ihn retten, aber es war Sturm, die Wellen hoch, und Ansgar ist ertrunken. Seine Leiche wurde später in Dänemark angespült. Boto hat Cuno dann trotzdem nach Bornholm gebracht. ›Offiziell‹, hat er gesagt, Cuno hätte ihn gezwungen, aber natürlich wollte er ihn auch nicht an die DDR ausliefern. Die hätten ihm nicht nur versuchte Republikflucht, sondern auch noch einen Mord angehängt.«
»Aber schließlich hat er ja auch seinen Cousin ermordet!«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Boto war der Einzige, der dabei war. Er hat später mal erzählt, Cuno wollte das gar nicht. Er wollte einfach nur abhauen und das mit Ansgar