Charles Dickens

Nikolas Nickleby


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nicht ausüben konnte. Die härtesten Arbeiten und Ohrfeigen hätte Smike nicht als etwas Absonderliches empfunden, denn viele schwere und gramvolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, wie er an Nikolas hing, als es Peitschenhiebe und Faustschläge nur so regnete. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Hilfslehrer so bald erworben, die Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nikolas mußte das alles untätig mit ansehen, wenn er auch mit den Zähnen knirschte, sooft sich ein solcher feiger und unmenschlicher Angriff auf den armen Smike wiederholte.

      Er hatte gewisse regelmäßige Lehrstunden für die Zöglinge eingeführt, und eines Abends, als er in der wieder wie gewöhnlich ungastlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines so tief beklagenswerten Wesens nur noch vermehrte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich vor der dunklen Ecke stehen, in der Smike kauerte.

      Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Heft und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit Durchschnittsfähigkeiten begabtes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein Buch mit sieben Siegeln bedeutete. Dessenungeachtet saß er da, die Seite geduldig wieder und wieder durchbuchstabierend, von dem krankhaft eifrigen Wunsche beseelt, seinem einzigen Freunde auf der Welt zu gefallen.

      Nikolas legte ihm die Hand auf die Schulter.

      »Ich komme nicht damit zustande«, jammerte Smike niedergeschlagen und sah mit einem Schmerzensblick auf. »Es geht wirklich nicht.«

      »Du sollst dich nicht so anstrengen«, tröstete Nikolas.

      Smike schüttelte den Kopf, klappte das Heft mit einem Seufzer zu, stierte ausdruckslos um sich her, legte dann das Gesicht auf den Arm und weinte.

      »Um Gottes willen hör auf«, sagte Nikolas erregt, »es zerreißt mir das Herz.«

      »Man ist schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Junge.

      »Leider, leider«, seufzte Nikolas.

      »Aber für Sie könnte ich in den Tod gehen. – Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«

      »Du wirst es besser haben, armer Junge«, tröstete Nikolas und schüttelte traurig den Kopf, »wenn ich fort bin.«

      »Fort?!« rief Smike und starrte Nikolas erregt ins Gesicht.

      »Pst! Sprich leise«, warnte Nikolas.

      »Sie wollen fort?« flüsterte Smike, außer sich.

      »Ich kann es noch nicht bestimmt sagen. Ich habe mehr zu mir selbst gesprochen als zu dir.«

      »Sagen Sie mir«, flüsterte der Junge, »Um Gottes willen, sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen? – Wirklich?«

      »Sie werden mich schließlich dazu zwingen«, murmelte Nikolas. »Und die Welt liegt offen vor mir.«

      »Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so furchtbar und grauenhaft wie dieser Ort?«

      »Gott sei vor! Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen hier.«

      »Würde ich Sie dort je wiedersehen?« fragte der Junge ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.

      »Ja. – Sicherlich«, versetzte Nikolas, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.

      »Nein, nein – nicht so«, keuchte Smike und ergriff Nikolas' Hand. »Würde ich – würde ich – es wirklich –? Sagen Sie mir es noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß dort treffen würde.«

      »Ja, du würdest es«, erwiderte Nikolas mit derselben wohlwollenden Absicht, »und ich könnte dir beistehen und müßte nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich es hier getan habe.«

      Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und murmelte einige abgerissene unverständliche Worte.

      In diesem Augenblick trat Squeers ein.

      Das kalte matte Dämmerlicht eines Januarmorgens stahl sich durch die Fenster des gemeinsamen Schlafsaales. Das Herz voll Gram blickte Nikolas, auf den Ellbogen gestützt, auf die schlummernden Gestalten, die ihn ringsum umgaben.

      Es bedurfte eines scharfen Auges, um unter der wirren Masse von Schläfern die Umrisse einer bestimmten Gestalt zu entdecken, denn wie sie so dicht aneinandergedrängt, mit Lumpen aller Art zugedeckt, dalagen, konnte man wenig mehr als die scharfen Konturen blasser Gesichter unterscheiden, über die dasselbe Licht dieselben trüben Tinten goß, mit denen es hin und wieder einen hageren Arm färbte, der sich, entblößt, dem Auge in seiner ganzen Abgezehrtheit und Häßlichkeit zeigte. Einige der Zöglinge lagen, die abgehärmten Gesichter aufwärts gekehrt, mit verkrampften Händen auf dem Rücken, und sahen in der dämmrigen Beleuchtung mehr Leichen als lebenden Geschöpfen gleich, während andere, in seltsamen und phantastischen Stellungen zusammengekrümmt, mehr unter Schmerzen und Krämpfen dazuliegen schienen als unter der Einwirkung des Schlafes. Nur die Jüngsten schlummerten friedlich mit lächelnden Zügen und träumten wahrscheinlich von daheim.

      Von Zeit zu Zeit unterbrach ein tiefer, schwerer Seufzer die Stille des Gemachs und verkündete, daß ein Schläfer zu des Tages Jammer und Elend erwacht war.

      Nikolas war kaum aufgestanden, als er des Schulmeisters Stimme die Treppe heraufbrüllen hörte:

      »Also, was ist denn? – Wollt ihr vielleicht den ganzen Tag durchschlafen?«

      »Ihr faulen Hunde«, beendete Mrs. Squeers den Satz. »Na, wird's bald?!«

      »Wir werden im Augenblick unten sein, Sir«, antwortete Nikolas.

      »Im Augenblick unten sein?« höhnte Squeers. »Smike! – Zum Teufel, wo steckt denn der Bursche? Wird er nicht gefälligst herunterkommen?«

      Nikolas blickte rasch umher, konnte den Gerufenen aber nicht entdecken.

      »Smike!« brüllte Squeers wieder.

      »Soll ich dir vielleicht den Schädel an einer neuen Stelle einschlagen, Smike?« gellte die liebenswürdige Schulmeistersgattin.

      Immer noch keine Antwort.

      »Bodenlose Unverschämtheit!« raste Squeers und schlug ungeduldig mit einem spanischen Rohr auf das Stiegengeländer. – »Heda, Nickleby!«

      »Sie wünschen, Sir?«

      »So schicken Sie doch den störrischen Schlingel herunter! Hören Sie mich denn nicht rufen?«

      »Er ist nicht hier«, antwortete Nikolas.

      »Lügen Sie mich nicht an«, schrie Squeers, »er muß hier sein.«

      »Nein, er ist nicht hier«, erwiderte Nikolas gekränkt. »Es ist nicht meine Gewohnheit, zu lügen.«

      »Na, das werden wir ja sehen«, brummte Squeers und stürmte die Treppe herauf.

      »Wetten, daß ich ihn finde?«

      Mit erhobenem Stock stürzte er in den Schlafsaal und zu dem Winkel, wo der ausgemergelte Körper des Haussklaven nachts zu liegen pflegte, aber das Bett war – leer.

      »Was soll das heißen!?« rief Squeers und verfärbte sich. »Wo haben Sie ihn versteckt?«

      »Ich habe ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen«, sagte Nikolas ruhig.

      »Lassen Sie diese Narrenpossen!« schrie Squeers; sichtlich beunruhigt, sosehr er es auch zu verbergen suchte. »Sie werden ihm auf diese Weise nicht durchhelfen. – Wo ist er?«

      »Wahrscheinlich auf dem Grunde des nächsten Teiches«, entgegnete Nikolas leise und sah den Schulmeister scharf an.