Charles Dickens

Nikolas Nickleby


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      Einen Augenblick fürchtete Nikolas, Squeers sei tot, überzeugte sich aber bald, daß er nur bewußtlos war, und entfernte sich kaltblütig, es der jammernden Familie überlassend, den Ohnmächtigen wieder ins Leben zurückzurufen, und überlegte, was er jetzt am besten tun sollte. Er sah sich, als er das Zimmer verließ, besorgt nach Smike um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

      Kurz entschlossen packte er seine wenigen Habseligkeiten in sein kleines ledernes Felleisen, ging, da ihm niemand in den Weg zu treten wagte, kühn durch die vordere Tür hinaus und schlug die Straße ein, die nach Greta Bridge führte.

      Als er sich hinreichend beruhigt hatte, um über seine Lage nachzudenken, erschien sie ihm freilich in einem nicht sehr ermutigenden Lichte, denn er hatte nur vier Schillinge und einige Pence in der Tasche und war mehr als zweihundertundfünfzig Meilen von London entfernt, wohin er zuvörderst seine Schritte zu lenken gedachte, um sich unter anderem auch danach zu erkundigen, wie Mr. Squeers wohl die Vorgänge des Tages seinem liebevollen Onkel vortragen würde.

      Diese Betrachtungen führten leider zu dem sehr traurigen Schlusse, daß es bei der dermaligen unglücklichen Sachlage keine Hilfsquelle für ihn gebe, und als er zufällig aufblickte, sah er einen Mann auf sich zureiten, in dem er beim Näherkommen zu seinem großen Verdruß niemand anders als Mr. John Browdie erkannte, der in lederbesetzten Reithosen herantrabte und sein Pferd mit einem Stecken antrieb.

      »Nochmals Streit und Zank? – Dazu habe ich wirklich keine Lust«, murmelte Nikolas. »Und doch hat es den Anschein, als ob mir noch, gelinde gesagt, ein Wortwechsel mit dem Tölpel, vielleicht sogar eine Prügelei, blühen sollte.«

      Wirklich schien auch einigermaßen Grund zu einer solchen Annahme vorhanden zu sein, denn kaum hatte ihn John Browdie erkannt, als er sein Pferd auf den Fußweg trieb und dort herausfordernd wartete, wobei er unablässig zwischen den Ohren seines Pferdes hindurch Nikolas fixierte.

      »'schamster Diener, junger Herr«, grüßte er höhnisch, als Nikolas herangekommen war.

      »Gleichfalls«, entgegnete Mr. Nickleby.

      »No, da hätten mir uns ja endlich 'troffen«, bemerkte John Browdie und schlug sich mit seinem Eschenstock an den Steigbügel.

      »Ja. – Hm«, brummte Nikolas. »Ich glaube«, fuhr er nach einer kurzen Pause freimütig fort, »wir sind, als wir uns das letztemal sahen, nicht sehr freundlich voneinander geschieden. Es war, denke ich, meine Schuld, aber ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, und ließ mir's auch nicht träumen, daß Sie sich beleidigt fühlen könnten. Es hat mir nachher sehr leid getan. Wollen wir die Sache vergessen und uns die Hand zur Versöhnung reichen?«

      »D'Hand geb'n?« rief der gutmütige Yorkshirer. »Ah, bei so was bin i immer dabei.« Mit einem breiten Lachen beugte er sich sogleich aus dem Sattel und drückte Nikolas kräftig die Hand.

      »Aber was hast denn da im G'sicht, Mensch? Schaust ja aus, als obs d' Wichs kriegt hättst.«

      »Es war ein Schlag«, erklärte Nikolas vor Zorn errötend. »Aber ein Schlag, den ich mit reichlichen Zinsen zurückgegeben habe.«

      »So? Ah!« rief John Browdie. »Recht so, dös g'fallt mir.«

      »Ich wurde nämlich mißhandelt«, flüsterte Nikolas, der nicht recht wußte, wie er eine nähere Erklärung einleiten sollte.

      »Aber geh!« unterbrach ihn Browdie, der, ein Riese an Kraft und Gestalt, in ihm wohl nur einen Zwerg sehen mochte, mitleidig. »Sagen S' dös not.«

      »Es ist leider so«, gestand Nikolas, »und zwar von diesem schuftigen Squeers; aber ich habe ihn gründlich durchgebleut und dann sein Haus verlassen.«

      »Wos?« schrie John Browdie in solcher Ekstase, daß sein Pferd darüber scheute. »Den Schulmeister verdroschen? – A, do legst di nieder. Gib mir noch a mal d'Hand, Kamerad. Den Schulmeister verdroschen! Teufel noch amol, küssen möcht i di deswegen.«

      Und wieder lachte John Browdie so laut, daß ringsum das Echo weit und breit erwachte und seine Heiterkeit teilte. Als sich seine Begeisterung ein wenig gelegt hatte, fragte er Nikolas, was er denn jetzt zu tun gedenke, schüttelte aber auf die Mitteilung, daß er schnurstracks nach London zurück wolle, nur bedenklich den Kopf und meinte, Nikolas wisse wohl nicht, was ein Wagen für eine so weite Fahrt koste.

      »Ich weiß es allerdings nicht«, gab Nikolas zu; »es kommt aber auch weiter nicht in Betracht, da ich vorhabe, meine Reise zu Fuß zu machen.«

      »Nach London zu Fuß?« fragte der Kornhändler verwundert.

      »Jeden Schritt Weges. Ich hätte übrigens, statt hierzustehen, schon eine schöne Strecke hinter mich bringen können. Also Gott befohlen.«

      »Na, dös gibts nöt«, protestierte der biedere Yorkshirer, sein ungeduldiges Pferd zügelnd. »Wart a bißl, sag i. Wieviel Geld hast d' in der Taschen?«

      »Nicht viel«, gestand Nikolas errötend; »aber ich muß eben trachten, damit durchzukommen. Fester Wille vermag viel.«

      John Browdie machte nicht viel Worte, zog einen alten, schmutzigen, ledernen Geldbeutel hervor und bestand darauf, daß Nikolas soviel von ihm annehmen müsse, als er augenblicklich brauche.

      »Brauchst di not schämen, Mensch«, sagte er. »Nimm soviel, als d' zum Heimkommen nötig hast. Ich habe ka Sorg; du wirst mir's schon wieder z'ruckzahlen.«

      Nikolas ließ sich trotzdem durchaus nicht bewegen, mehr als eine Guinee anzunehmen, womit sich Mr. Browdie nach vielem Drängen, doch tiefer in den Beutel zu greifen, zufriedengeben mußte, wenn auch nur widerstrebend, trotzdem er mit echt Yorkshirer Vorsicht hinzufügte, Nikolas könne ja, was er nicht ausgebe, gelegentlich portofrei zurückschicken.

      »Da, nimm noch den Stecken zum Andenken mit, Kamerad«, sagte er zum Abschied und drückte Nikolas abermals die Hand.

      »Bewahr dir an frischen Mut, und Gott mit dir. – Den Schulmeister verdroschen! Teifel, dös is das Beste, wo i in zwanz'g Jahren g'hört hab'«

      Und mit mehr Zartgefühl, als man von ihm erwartet hätte, brach er aufs neue in ein lautes Gelächter aus, um nicht auf Nikolas' Dankesbezeugungen achten zu müssen, gab dann seinem Pferd die Sporen und ritt in scharfem Trab davon. Nikolas sah ihm noch lange nach. Erst, als Roß und Reiter hinter dem Kamme eines fernen Hügels verschwunden waren, setzte er seinen Weg fort.

      Er kam an diesem Abende nicht mehr weit, da es rasch finster wurde. Es hatte stark geschneit, und der Weg war nicht nur sehr mühsam, sondern auch in der Dunkelheit für jemand, der in der Gegend fremd war, unsicher und schwer aufzufinden. Er übernachtete daher in einer leeren Scheune, die ein paar hundert Ellen neben der Straße stand.

      Als er frühmorgens erwachte und sich schlaftrunken die Augen rieb, sah er zu seinem grenzenlosen Erstaunen – Smike vor sich stehen.

      »Ja, Smike, wie kommst du denn hierher?« – rief er überrascht.

      »Lassen Sie mich mit Ihnen gehen!« flehte der arme Bursche, warf sich nieder und umschlang Nikolas' Knie. »Sie sind doch mein Freund. Nehmen Sie mich mit. Bitte, bitte.«

      »Aber dieser Freund kann wenig für dich tun«, sagte Nikolas und hob Smike sanft auf. »Wie kommst du eigentlich hierher?«

      Der arme Junge war ihm, wie sich herausstellte, nachgegangen und hatte ihn auf dem ganzen Weg nicht aus dem Gesicht verloren, sich aber stets gescheut, vor ihm zu erscheinen, um nicht wieder zurückgeschickt zu werden. Er wäre auch jetzt nicht hervorgetreten, aber Nikolas war früher erwacht, als er vermutete, und so hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich zu verbergen.

      »Armer Junge«, seufzte Nikolas, »dein hartes Geschick hat dir nur einen einzigen Freund beschieden, und dieser ist beinahe so arm und hilflos wie du selbst.«

      »Darf ich – darf ich mit Ihnen gehen?« fragte Smike schüchtern. »Ich will ja gerne alles tun, was Sie verlangen, und Ihnen dienen. – Ich brauche keine Kleider«, beteuerte das arme Geschöpf freudig und raffte seine Lumpen zusammen, »ich komme ganz gut mit diesen durch. Nur in Ihrer Nähe