habe, wie viele bessere Partien sie hätte machen können. Auch habe sie die ganze Zeit über nie gewußt, wo das Geld hinkäme, und es wäre wohl alles weit besser gegangen, wenn er mehr Vertrauen in sie gesetzt hätte, und was dergleichen bittere Erinnerungen mehr sind, die man gewöhnlich bei verheirateten Frauen während ihres Ehestandes oder nachher zu hören bekommt. Sie schloß mit der Klage, daß der teuere Verblichene sich von ihr nie habe raten lassen, ein einziges Mal ausgenommen – was auch in der Tat vollkommen der Wahrheit entsprach, denn das war damals gewesen, als der Grundstein zu seinem finanziellen Zusammenbruch gelegt wurde.
Mr. Nickleby hörte all das mit einem halben Lächeln an, und als die Witwe mit ihren Wehklagen endlich fertig war, nahm er das unterbrochene Thema genau da wieder auf, wo er durch den Herzenserguß seiner Schwägerin unterbrochen worden war.
»Hast du Lust zu arbeiten, Musjö?« wendete er sich an seinen Neffen.
»Das versteht sich von selbst«, sagte Nikolas stolz.
»Dann sieh her. Diese Notiz fiel mir heute morgen ins Auge, und du kannst Gott dafür danken.«
Nach dieser Einleitung zog Mr. Ralph ein Zeitungsblatt aus der Tasche, suchte eine Weile unter den Anzeigen herum und las dann laut vor:
»Erziehungsanstalt. – In Mr. Wackford Squeers' Erziehungsheim, Dotheboys Hall, bei dem anmutigen Dorfe Dotheboys gelegen, in der Nähe von Greta Bridge in Yorkshire, werden Knaben beköstigt, gekleidet, mit Büchern, Taschengeld und allem Erforderlichen versehen und erhalten Unterricht in allen Sprachen lebenden wie toten –, in Mathematik, Orthographie, Geometrie, Astronomie, Trigonometrie, Geographie, Algebra, ferner im Fechten (wenn es verlangt wird), Schreiben, Rechnen, in der Fortifikationslehre sowie jedem Zweige der klassischen Literatur. Pensionsgeld zwanzig Guineen jährlich, keine Extraanforderungen, keine Vakanzen und unvergleichlich gute Kost. Mr. Squeers hält sich gegenwärtig in London auf und ist täglich von ein bis vier Uhr im ›Mohrenkopf‹ in Snow Hill zu sprechen. – N.B. Es wird ein fähiger Hilfslehrer gesucht. Jährliches Gehalt fünf Pfund. Ein Magister der freien Künste erhält den Vorzug.«
»So«, schloß Mr. Ralph Nickleby und steckte die Zeitung wieder ein. »Erhältst du diese Stelle, so ist dein Glück gemacht.«
»Aber er ist nicht Magister der freien Künste«, wendete Mrs. Nickleby ein.
»Das wird sich, glaube ich, machen lassen«, entgegnete Ralph. »Aber das Gehalt ist so gering und die Entfernung gar so groß, Onkel«, jammerte Kate.
»Still, mein Kind«, verwies die Mutter, »dein Onkel muß das am besten verstehen.«
»Ich sage es noch einmal«, bemerkte Ralph mit Schärfe, »bekommt er die Stelle, so ist sein Glück gemacht. Behagt sie ihm nicht, so mag er selbst für eine andere sorgen. Wenn er aber ohne Freunde, ohne Geld, ohne Empfehlung und ohne jede Geschäftskenntnis eine ehrliche Beschäftigung in London finden kann, mit der er sich auch nur die Schuhsohlen verdient, so will ich ihm tausend Pfund geben. Das heißt«, unterbrach er sich, »ich würde sie ihm geben, wenn ich sie hätte.«
»Armer, armer Bruder«, seufzte Kate. »Ach Onkel, müssen wir uns denn schon so bald trennen?«
»Belästige deinen Onkel nicht mit Fragen, wo er doch nur für unser Wohl bedacht ist, mein liebes Kind«, tadelte Mrs. Nickleby. »Lieber Nikolas, weißt du denn gar nichts darauf zu sagen?«
»Doch, doch, Mutter«, raffte sich Nikolas auf, der bisher schweigend und in Gedanken versunken dagesessen hatte. »Wenn ich so glücklich bin, die Stelle zu erhalten, für die ich mich so wenig geeignet fühle, was wird aber aus denen werden, die ich hier zurücklasse?«
»In diesem Fall, aber auch nur in diesem Fall, will ich für deine Mutter und deine Schwester sorgen«, versetzte Ralph, »und ihnen eine Position schaffen, in der sie unabhängig leben können. Es wird dann meine Sorge sein, daß sie keine Woche nach deiner Abreise in ihrer gegenwärtigen Lage bleiben.«
»Dann«, rief Nikolas, sprang freudig auf und ergriff die Hand seines Onkels, »dann bin ich bereit, alles zu tun, was Sie von mir wünschen. Wir wollen unverzüglich unser Glück bei Mr. Squeers versuchen. Höchstens kann er mir eine abschlägige Antwort geben.«
»Das wird er nicht«, brummte Ralph Nickleby. »Er wird dich mit Freuden annehmen, wenn ich dich ihm empfehle. Suche ihm nach Kräften nützlich zu sein, und du wirst dich binnen kurzem zum Teilhaber an seinem Institut emporschwingen. Du mein Himmel, wenn er dann gar mit Tod abginge, dein Glück wäre auf immer gemacht.«
»Ja, ja, ich sehe schon alles vor mir«, rief der arme Nikolas, ganz hingerissen von jugendlicher Begeisterung. »Oder vielleicht gewinnt mich irgendein junger Aristokrat lieb, der in der Anstalt erzogen wird, bittet mich von seinem Vater, wenn er die Schule verläßt und auf Reisen geht, als Hofmeister aus und verschafft mir nach unserer Zurückkunft vom Festland irgendeine hübsche Anstellung. Was halten Sie davon, Onkel?«
»Hm, höchst wahrscheinlich«, höhnte Ralph.
»Und wer weiß, wenn er kommt, um mich zu Hause zu besuchen, was er natürlich tun würde, so verliebt er sich in Kate, die mir die Wirtschaft führt, und, und – heiratet sie. Wer weiß, nicht wahr, Onkel?«
»Ja, wer weiß«, brummte Ralph.
»Und wie glücklich würden wir sein!« rief Nikolas begeistert. »Was ist der Schmerz der Trennung gegen die Freude des Wiedersehens. Ich werde stolz darauf sein, Kate eine schöne Frau nennen zu hören, und wie glücklich wird dann erst die Mutter sein, wenn wir wieder alle beisammen sind und diese traurigen Zeiten vergessen sein werden, und dann ...«
Die Farben dieses Zukunftsbildes waren zu strahlend, um nicht zu blenden, und Nikolas, der ganz überwältigt war, lächelte leise und brach dann in Tränen aus.
Die einfache Familie, die in ihrer Zurückgezogenheit nichts von dem kennengelernt hatte, was man konventionell »Welt« nennt und was eigentlich soviel bedeutet wie Schurkerei, ließ ihren Tränen bei dem Gedanken an die Trennung freien Lauf. Als der erste Gefühlsausbruch vorüber war, fuhren sie mit der Schwungkraft noch nie enttäuschter Hoffnung fort, sich die Zukunft aufs glänzendste auszumalen, bis Mr. Ralph Nickleby einwendete, daß leicht ein glücklicher Bewerber Nikolas des Glückes berauben könne, das die Zeitung in Aussicht stellte, was soviel hieße, wie alle Luftschlösser mit einem Schlage zerstören, wenn man länger warte. Dies steckte der Unterhaltung ein Ziel, und nachdem Nikolas die Adresse Mr. Squeers' sorgfältig notiert hatte, schickte er sich mit seinem Onkel an, den Herrn aufzusuchen. Er hatte jetzt die feste Überzeugung, Ralph sehr unrecht getan zu haben, als er bei der ersten Begegnung einen solchen Widerwillen gegen ihn gefaßt hatte, und Mrs. Nickleby gab sich nicht wenig Mühe, ihre Tochter zu belehren, welch wohlwollender menschenfreundlicher Herr der Onkel wäre.
Den Appell ihres Schwagers an ihre Einsicht und das darin fein eingewickelte Kompliment für ihre hohen Verdienste hatte nicht wenig zur Bildung dieser Ansicht beigetragen, und wenn auch die gute Frau ihren Mann zärtlich geliebt hatte und in ihre Kinder sozusagen vernarrt war, so hatte doch Ralph Nickleby, mit den Schwächen des menschlichen Herzens aufs innigste vertraut, wenn ihm auch die schöneren Seiten desselben fremd geblieben, eine jener kleinen mißtönenden Saiten mit so günstigem Erfolge berührt, daß sie sich allen Ernstes für das beklagenswerte, duldende Opfer der Unklugheit ihres verblichenen Gatten zu betrachten begann.
4. Kapitel: Nikolas und sein Onkel machen, um das Glück beim Schopf zu fassen, bei Mr. Wackford Squeers ihre Aufwartung
Snow Hill! Was für eine Art von Ort mag sich wohl der ruhige Städter unter Snow Hill denken, wenn er dieses Wort mit der vollen Deutlichkeit goldener Buchstaben auf den Landkutschen, die aus dem Norden kommen, liest? Man pflegt sich im allgemeinen stets einen unbestimmten Begriff von einem Orte zu machen, dessen Namen man oft sieht oder hört; und welche Unzahl von falschen Vorstellungen mögen sich wohl schon an dieses Snow Hill gekettet haben? Es ist ein so vielsagender Name. Snow Hill! Und Snow Hill noch dazu in Verbindung mit einem »Mohrenkopf«!
Und wie verhält sich in Wirklichkeit die Sache? Der Weg führt uns in den Mittelpunkt von London, so recht in das Herz seines geschäftigsten