nackt auf einer Abrissbirne zu sitzen oder in einem Fleischkleid auf dem roten Teppich zu erscheinen, und die geradlinigen mustergültigen Musiker, die sich von Skandalen fernhielten und wegen ihrer Bodenständigkeit beliebt waren. Alexis war immer Letzteres gewesen – das anständige, liebenswerte All American Girl, das sich bei jeder Preisverleihung brav bei seinen Fans bedankt und ohne Starallüren Autogramme gegeben hatte.
Von ihr hatte es nie Tonaufnahmen gegeben, auf denen sie Mitarbeiter beschimpfte, oder gar Fotos, die sie im betrunkenen Zustand auf einer Party zeigten. Und es waren auch nie private Sexvideos erschienen, die aus ihrer Villa gestohlen worden waren, weil es sie schlichtweg nicht gegeben hatte. Alexis hatte stets aufgepasst, dass sie nichts tat, was ihr in der Öffentlichkeit hätte schaden können, schließlich war sie sich bewusst gewesen, welches Image sie besaß und dass sie gewisse moralische Werte repräsentierte. Aber dann hatte sie sich verliebt und hatte sich in aller Öffentlichkeit das Herz brechen lassen.
„Du weißt sehr gut, dass ich nicht hingehen konnte“, erwiderte sie ruhig und wich dem Blick ihrer Schwester aus.
„Warum nicht?“, fragte Holly forsch nach.
Sie warf ihrer Schwester einen langen Blick zu, anstatt ihr zu antworten.
Holly, die im Gegensatz zu ihr dunkles Haar und dunkle Augen hatte, verdrehte die Augen. „Komm mir bitte nicht mit diesem Paxton-Arschloch. Den steckst du doch locker in die Tasche!“
Da war sich Alexis nicht sicher. Voller Scham erinnerte sie sich an die Verleihung im letzten Jahr und ihren peinlichen Auftritt. Unter diesen Bedingungen hätte sie ganz unmöglich heute über den roten Teppich laufen und ihm sowie seiner Frau begegnen wollen.
„Können wir bitte das Thema wechseln?“ Sie nahm Holly die Schale mit den Nachos aus den Händen und verließ das Wohnzimmer.
Als sie durch den Salon lief, in dem sie sich zwar nie aufhielt, der aber dank seiner wunderschönen Einrichtung und der Doppeltüren zur Terrasse für repräsentative Zwecke wie Interviews oder Fernsehaufnahmen gerne genutzt wurde, hörte sie, dass Holly ihr folgte. Wie es aussah, war ihre Schwester noch nicht bereit, das Thema zu wechseln, was Alexis überhaupt nicht passte. Während sie am Esszimmer vorbeilief und anschließend die Eingangshalle durchquerte und dabei den kühlen Steinboden unter ihren Füßen spürte, fragte sie sich, was sie tun konnte, um ihre kleine Schwester loszuwerden. Außerdem rätselte sie, ob es eventuell unhöflich wäre, Holly vor die Tür zu setzen und sie auf diese Weise davon abzuhalten, eines der Schlafzimmer für die kommende Nacht zu belegen. Alexis war anscheinend nämlich etwas masochistisch veranlagt und wollte sich den Rest von Brads Interview ansehen, sobald Holly verschwunden war.
„Ich meine es ernst, Alexis. Der Typ kann dir nicht das Wasser reichen. Du solltest ...“
„Musst du nicht an deiner Doktorarbeit schreiben?“, unterbrach sie ihre Schwester und betrat die Küche, die für ein Haus von über siebenhundert Quadratmetern relativ gemütlich eingerichtet war, wenn man die massiven Holzmöbel und den nostalgisch wirkenden Herd betrachtete, an dem man problemlos ein mehrgängiges Menü für zwanzig Gäste zubereiten konnte. Nicht dass Alexis es jemals versucht hätte. Wann hätte sie in den letzten Jahren auch jemals Zeit für einen Abend mit Freunden gehabt? Und wann hätte sie die Zeit finden sollen, um Freunde – ehrliche und aufrichtige Freunde – zu finden, die nicht nur etwas von ihrem Ruhm, ihrem Geld und ihrem Status abhaben wollten?
„Ich nehme mir heute eine kreative Pause“, gab Holly zurück, die nie um eine Antwort verlegen war. Ihre Schwester, die ein paar Jahre jünger war als sie und aus der zweiten Ehe von Alexis’ Mom stammte, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Wasser heraus. „Chaucer ist seit über sechshundert Jahren tot. Ich denke also, dass ein Tag mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt, was eine Dissertation über die Canterbury Tales betrifft.“
„Und was sagt dein Professor zu dieser Einstellung?“ Alexis stellte den Teller auf die Arbeitsfläche der Kücheninsel, die den Raum dominierte, und wusch sich anschließend über der breiten Spüle, die in die Kücheninsel eingelassen worden war, die Hände. Vor den Augen ihrer Schwester hätte sie die Salsasauce, die an ihrem Daumen klebte, schließlich nicht einfach ablecken können. Holly schien Alexis bereits für eine Vogelscheuche zu halten, dabei war die jüngere Schwester eigentlich diejenige, die sich nicht sonderlich viel aus Mode und Schönheitspflege machte.
Während Alexis bereits als Grundschulkind Tanzstunden und Gesangsunterricht genommen hatte und von ihrer Mom stets herausgeputzt worden war, hatte Holly ihre Nase immer viel lieber in Bücher gesteckt, als ihre Haare zu hübschen Frisuren zu flechten und mit den Kleidern ihrer Mom Modenschau zu spielen. Auch in der Highschoolzeit war Holly für Make-up und typischen Mädchenkram wie Cheerleading nicht sonderlich zu erwärmen gewesen. Stattdessen hatte sie Theater gespielt und ihr wundervolles dunkelbraunes Haar abschneiden lassen – zum Missfallen ihrer Mom. Alexis konnte sich ziemlich gut erinnern, wie oft es zwischen ihrer Mom und ihrer Schwester geknallt hatte, was rückblickend sicherlich auch damit zu tun gehabt hatte, dass ihre Mutter sehr ehrgeizig Alexis’ Talent gefördert hatte, während Holly dabei stets zu kurz gekommen war.
Ihre Mom war mit ihr ständig zu Talentshows gefahren, hatte sie bei Castings angemeldet und so ziemlich alles getan, um Alexis eine Karriere als Sängerin zu ermöglichen, nachdem der Musiklehrer der Vorschule davon gesprochen hatte, wie schön ihre Stimme und wie musikalisch sie doch sei. Obwohl die Familie nie viel Geld besessen hatte, bekam Alexis Musikunterricht, ein Klavier und Tanzstunden. Außerdem zog ihre Mom mit ihr nach New York, damit Alexis dort zur Professional Performing School of Arts gehen konnte. Sie war damals elf Jahre alt. Holly war erst sieben und blieb für fast ein Jahr in Georgia bei ihren Großeltern, bevor sie drei zusammen nach Tennessee zogen, wo Alexis in Nashville ihre Gesangsausbildung fortsetzte.
Sie waren zu dritt oft umgezogen – immer wegen Alexis. Und Holly hatte jedes Mal die Schule wechseln und neue Freunde finden müssen. In vielen Fällen hätte die geschwisterliche Zuneigung darunter gelitten, was bei ihnen jedoch nicht der Fall gewesen war, denn Alexis wusste, welche Opfer auch Holly für die Karriere ihrer Schwester gebracht hatte. Stattdessen war das Verhältnis zwischen Holly und ihrer Mom angespannt, denn ihre Mutter meinte, dass Alexis’ Erfolg schließlich auch Holly zugutekam. So einfach war es nur leider nicht.
„Wollen wir uns wirklich über meinen Professor unterhalten?“
Alexis zuckte mit den Schultern und drehte das Wasser ab. „Wieso nicht?“
„Ich würde mich lieber darüber unterhalten, dass du diesem Mistkerl nicht das Feld räumen solltest.“
„Das tue ich auch nicht“, protestierte sie, obwohl sie beide wussten, dass sie log.
Und Holly kannte keine Scheu, ihrer Schwester genau das ins Gesicht zu sagen. „Natürlich überlässt du ihm kampflos das Feld, wenn du heute Abend auf der Couch liegst, anstatt auf dieser Verleihung zu sein und ihm zu zeigen, dass er sich nicht mit dir messen kann.“
Sie hätte ihrer Schwester sagen können, dass sie momentan nicht in der Verfassung war, Brad Paxton entgegenzutreten, und dass sie erst recht nicht in der Verfassung war, über den roten Teppich zu laufen und dabei von unzähligen Fotografen und Kameramännern aufgenommen zu werden. Sie wäre zur absoluten Lachnummer geworden.
Stattdessen erwiderte sie schlicht: „Ich hatte einfach keine Lust, mich in Schale zu werfen.“
„Es hätte schon gereicht, wenn du dir die Haare gekämmt hättest.“ Ganz die liebevolle Schwester griff sie in Alexis’ unordentlichen Dutt hinein und zupfte an ein paar verworrenen Strähnen herum. „Leider bin ich keine Modeexpertin, aber ich denke nicht, dass der In-meinem-Haar-brüten-Vögel-Look momentan angesagt ist.“
„Vielen Dank“, grollte Alexis und entzog Holly den Dutt. Sie wusste selbst, dass sie zurzeit alles andere als repräsentabel aussah. Ihr Haar hätte nicht nur einen Kamm, sondern auch eine Pflegepackung gebraucht sowie einen anständigen Schnitt, ihr blasser Teint hätte ein wenig Sonne vertragen können, und um in die eleganten Kleider zu passen, die man auf dem roten Teppich trug, hätte Alexis den Fitnessraum mal wieder benutzen sollen, der sich im Keller ihres Hauses befand.