konnte, und um in einem eigenen Fitnessbereich zu trainieren, in dem sie sich ausdauertechnisch auf anstrengende Konzerte vorbereiten konnte sowie in Form zu bleiben. In den letzten Monaten hatte sie weder das Tonstudio noch den Fitnessraum benutzt. Stattdessen verbrachte sie übermäßig viel Zeit vor dem Fernseher.
„Ein Kamm, etwas Farbe im Gesicht und vielleicht sogar eine förmlichere Kleidung als dein zurzeit bevorzugter Kleidungsstil und du hättest heute Abend geglänzt“, prophezeite Holly.
Über den Optimismus ihrer kleinen Schwester konnte sie nur lächeln. „Um dort zu glänzen, braucht es schon etwas mehr. Nach den Schlagzeilen der letzten Monate hätte ich dort nicht auftauchen können.“
Holly nahm einen Schluck Wasser und schraubte die Flasche anschließend wieder zu. „Alexis ...“
„Ich will wirklich nicht darüber reden.“
„Du bist doch sonst nicht der Typ, der den Kopf in den Sand steckt.“ Ihre Schwester seufzte schwer. „Himmel, Alexis, ich gebe Mom ja ungern recht, aber langsam solltest du aus dem Schneckenhaus herauskommen, in dem du dich verkrochen hast.“
Ganz automatisch hob sie die Schultern in die Höhe und murmelte: „Und du denkst, dass ausgerechnet die Grammy-Verleihung die richtige Veranstaltung ist, um mich wieder nach draußen zu wagen?“
„Nein“, gab sie zu, um mit ernster Stimme gleich darauf fortzufahren: „Aber es wäre ein Anfang, wenn du dir Hosen anziehen würdest, die man nicht mit einer Kordel zuzieht, und du dich ab und zu an die frische Luft trauen könntest. Momentan beschränken sich deine sozialen Kontakte auf Mom, mich, Theresa und den Netflix-Support, bei dem du dich beschwerst, wenn keine weiteren Staffeln deiner Lieblingsserien produziert werden. Außerdem habe ich es langsam satt, in diversen TV-Shows hören zu müssen, dass man dir einen Nervenzusammenbruch diagnostiziert, weil du völlig von der Bildfläche verschwunden bist. Ist dir eigentlich klar, dass im Internet Wetten darüber kursieren, ob du dir bald deine Haare abrasierst und anschließend mit einem Regenschirm auf Fotografen losgehst wie damals Britney Spears?“
„Das ist nicht komisch“, murmelte Alexis und spürte gleichzeitig, dass sie vor Verlegenheit rot wurde.
„Da sind wir einer Meinung. Ich finde das auch nicht besonders lustig.“ Holly verzog den Mund und lehnte sich gegen den Küchenschrank hinter sich, bevor sie ernst zu bedenken gab: „Du hast so hart an deinen Erfolgen arbeiten müssen, dass ich es unerträglich finde, was momentan passiert. Kannst du dir bitte die Haare kämmen und dich irgendwo blicken lassen, damit ich nicht ständig lesen muss, dass meine Schwester reif für eine Therapie ist?“
Alexis erwiderte den Blick ihrer Schwester und merkte erst nach ein paar Sekunden, dass sie auf ihrer Unterlippe herumnagte. In Hollys Ohren hörte es sich so leicht an – als wäre es eine Frage der richtigen Frisur, sich in der Öffentlichkeit blicken zu lassen und sein eigenes Foto anschließend auf der Titelseite eines Magazins zu sehen. Und das mit einer vermutlich weniger schmeichelhaften Überschrift. Eigentlich wusste sie, dass sie solche Bilder und Artikel ignorieren sollte, weil sie ohnehin nie der Wahrheit entsprachen. Dennoch war das fast unmöglich, wenn man sich sowieso verletzlich und angreifbar fühlte.
Sie war zweiunddreißig Jahre alt und konnte nirgendwohin gehen, ohne erkannt zu werden und ohne Menschen zu begegnen, die nicht wussten, was sich gerade in ihrem Leben abspielte. Das ganze Land kannte ihr Liebesleben – oder glaubte zumindest, es zu kennen. Was es jedoch nicht wusste, war, dass Alexis erst zweimal in ihrem Leben verliebt gewesen war und dass beide Male nicht sonderlich gut für sie ausgegangen waren. Nachdem ihr mit achtzehn Jahren das Herz gebrochen worden war, hatte sie eigentlich nicht geglaubt, dass ihr das noch einmal passieren könnte.
Leider hatte sie sich in jenem Fall geirrt.
2
Sein Agent hatte Dutzende Klinken putzen müssen, um ihn auf die Gästeliste dieser Party zu setzen. Es war die Aftershow-Party der Grammys – eine der unzähligen Partys, die nach der Verleihung überall in Los Angeles stattfanden. Musikproduzenten, Plattenfirmen, TV-Sender und Zeitschriften veranstalteten in der Nacht, in der der wichtigste Musikpreis der ganzen Branche verliehen wurde, diverse Partys und hofften, dass sich das Who is who der Musikwelt bei ihnen blicken lassen würde. Nur war das Who is who der Musikwelt ziemlich wählerisch und besuchte lediglich die wirklich wichtigen Partys, nachdem es im Staples Center in Downtown L. A. an der Grammy-Verleihung teilgenommen hatte.
Zum Who is who gehörte er schon lange nicht mehr.
Taylor Sutter, einstiger Frontmann von SpringBreak und Besitzer eines Albums mit Platinstatus, schaute sich in dem gemieteten Restaurant um, in dem heute Abend die Party eines weniger erfolgreichen Musikproduzenten stattfand, und fragte sich, wie er hierhergekommen war.
Bei dem Gedanken verzog er selbstironisch den Mund, denn die Frage war eher rhetorischer Natur gewesen, immerhin war er mit einem Taxi hergekommen.
Nein, er fragte sich, wie weit es gekommen war, dass er heute mit fünfunddreißig Jahren nur durch die Kontakte seines Agenten zu einer Party eingeladen worden war, nach der sowieso kein Hahn krähte. Er musste es wissen, denn früher war er zu Gast auf allen wirklich wichtigen Partys gewesen. Von daher konnte er einschätzen, dass diese Party für keinerlei Schlagzeilen sorgen würde. Sie diente lediglich der Gelegenheit, ein paar kostenlose Drinks und seltsam schmeckende Häppchen abzugreifen und gleichzeitig zu hoffen, dass wundersamerweise ein Kontakt zu einem Musikproduzenten oder Agenten hergestellt werden konnte, um später von diesem Kontakt zu profitieren.
Taylor nahm einen Schluck aus seinem Glas und ließ seinen Blick währenddessen über die übrige Gästeschar wandern.
Die meisten Gäste hatte er niemals zuvor gesehen, aber das musste nichts heißen, denn Taylor schaute ziemlich wenig Trash-TV, und er war sich sicher, dass einige der dürftig bekleideten Mädchen mit den künstlichen Fingernägeln und den künstlichen Oberweiten an diversen Reality-Shows teilgenommen hatten und jetzt hofften, ihre Gesangskarriere zu starten. Er hätte ihnen gleich sagen können, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatten, nicht funktionieren würde. Sogar bei seinem Kumpel Cole, der nach seiner Karriere als erfolgreicher Musiker an einem unerträglichen TV-Format, das auf einer karibischen Insel gedreht worden war, teilgenommen hatte, hatte der Plan nicht funktioniert. Anstatt durch seine Teilnahme wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken und das Interesse von Musikproduzenten zu wecken, war Cole lediglich zur Lachnummer der Nation geworden. Von diesem Ruf hatte er sich auch heute, Jahre später, noch nicht erholt. Und von einem Plattenvertrag war er meilenweit entfernt.
Taylor auch, obwohl er nicht nur mit einem Bambusröckchen bekleidet vor laufender Kamera diverse Challenges bestreiten und unter anderem Eidechseninnereien hatte essen müssen. Bis heute begriff er nicht, weshalb sich sein Kumpel und ehemaliger Bandkollege auf diesen Scheiß eingelassen hatte.
Im Gegensatz zu Cole, der nach dem Aus von SpringBreak nicht mehr auf der Bühne oder in einem Tonstudio gestanden hatte, war Taylors weitere Karriere sogar ziemlich erfolgversprechend gestartet.
Als Solokünstler hatte er gleich nach dem Ende der Band einen Vertrag bekommen und an einem Album gearbeitet, das Platinstatus und mehrere Preise gewonnen hatte. Alles war glänzend verlaufen – so glänzend, dass die Plattenfirma mit Dollarzeichen in den Augen darauf gedrängt hatte, das nächste Album so schnell wie möglich zu produzieren. Und dummerweise hatte sich Taylor darauf eingelassen, anstatt die Zeit einzufordern, die er gebraucht hätte, um erstklassige Songs zu schreiben und zu komponieren. Inmitten einer Konzerttour durch über zwei dutzend Städte innerhalb weniger Wochen, einer groß angelegten Pressetour mit zehn Interviews am Tag und mehreren Videodrehs hatte er zugestimmt, den Großteil der Songs schreiben zu lassen.
Songwriter waren nicht verwerflich. Die wenigsten Sänger schrieben ihre Songs selbst. Auch die ersten Lieder und Alben von SpringBreak stammten fast ausschließlich von Songwritern, aber Taylor war nun einmal nicht nur Sänger, sondern auch Songwriter. Er wusste, dass seine besten Songs diejenigen waren, die er auch selbst geschrieben hatte. Dennoch hatte er sich auf einen Kompromiss eingelassen, weil das fast alle Künstler taten. Woher