damals vor zwei Jahren, als Lasse mir einen Job auf dem Hof seines Bruders verschafft hatte …
Ich berichtete über Gazelle, die Schimmelstute, und wie Madeleine und ich uns nach dem Fohlen gesehnt hatten.
„Dieses Fohlen ist Siboney. Du hättest sie sehen müssen, als sie auf die Welt kam. Das knochigste Häufchen Elend, das man sich vorstellen kann. Sie war dunkelbraun, fast schwarz. Sie hatte übergroße, lange Ohren und sah furchtbar mürrisch aus. Wahrscheinlich war sie das häßlichste Fohlen der Welt. Aber ich war überglücklich. Ich liebte sie vom ersten Augenblick an.“
Lasse schwieg, und ich fuhr fort: „Du kannst dir meine Träume, meine Hoffnungen und Pläne vorstellen. Ich dachte immer daran, daß sie groß wird und ich sie eines Tages reite …“
„Und was passierte dann?“ fragte Lasse.
„Das ist es ja gerade. Es passierte nichts. Ich gab ihr Heu und Kraftfutter und Vitamine. Ich tat alles für sie. Aber sie wuchs nicht. Ich wollte es zuerst nicht wahrhaben, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung sei. Jetzt muß ich es wohl einsehen … Und seit sie diesen Husten hat, frißt sie gar nichts mehr. Sie steht nur da und läßt den Kopf hängen.“
Ich schwieg. Ich hatte alles gesagt. Lasse schwieg auch. Aber ich spürte, daß er mich verstand und fühlte mich ein bißchen erleichtert.
Dann fiel mir etwas ein: „Sagtest du nicht, daß wir heute morgen mit deinem Onkel telefoniert haben?“
„Hmhm“, antwortete Lasse lächelnd. „Der neue Tierarzt ist mein Onkel.“
Wir näherten uns jetzt der Reitschule.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mit dir komme und auf meinen Onkel warte?“ fragte Lasse.
„Glaubst du vielleicht, es ist schöner allein zu warten?“
Lasse brachte seinen Fuchs auf eine der Koppeln und folgte mir in den Stall. Siboney lag in ihrer Box. Als wir mit Silber hereinkamen, raffte sie sich mühsam hoch. Den Hafer hatte sie nicht angerührt.
Eine Stunde später kam der Tierarzt. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und war noch nicht so schrecklich alt. Zuerst untersuchte er Silber.
„Das Pony ist in guter Verfassung“, meinte er und schrieb nur eine Flasche Hustensaft auf.
Dann gingen wir zu Siboney.
„Ist das Pferd versichert?“ lautete die erste Frage des Tierarztes, nachdem er sich das Fohlen eine Weile angeschaut hatte. Das wirkte so kalt und nüchtern auf mich, daß ich mit Mühe und Not ein schwaches „Ja“ stammeln konnte.
„Ist sie schon immer so mager gewesen?“
Ich erklärte ihm, daß das gerade das Problem sei. Der Tierarzt murmelte irgend etwas Unverständliches und untersuchte Siboneys Zähne gründlich. Daß sie einen Unterbiß hatte, wußte ich. Aber der andere Tierarzt hatte gesagt, das sei nicht von Bedeutung.
„Lasse, sei so nett und hole mir aus meiner Tasche im Auto eine Mundklammer und eine Taschenlampe.“
„Wollen Sie Siboneys Zähne feilen?“ fragte ich vorsichtig. Dr. Södergren machte ein besorgtes Gesicht. „Ich fürchte, das würde in diesem Fall nichts nützen. Aber ich will mir ihr Gebiß doch noch genauer ansehen.“
Die Klammer hielt Siboneys Kiefer auseinander. Der Tierarzt leuchtete lange mit seiner Taschenlampe in das Maul meines Fohlens.
„Tja! Das habe ich befürchtet. Ein Unterbiß bedeutet, daß die Kaufläche verschoben ist. Das allein ist schon schlimm genug. Aber hier kommt noch ein anderer Fehler hinzu, den man Scherenbiß nennt. Ihr könnt selbst sehen, daß Oberund Unterkiefer sich kaum berühren. Die Kaumöglichkeit ist minimal. Dieses Pferd kann sein Fressen nicht verdauungsgerecht zerkleinern. Die Zähne beißen nicht aufeinander …“
Ich wollte nichts mehr hören. In meinem Kopf schien sich alles zu drehen.
„Kann man denn nichts machen?“ stammelte ich verzweifelt.
Doktor Södergren schaute mich teilnahmsvoll an und sagte: „Man soll ein Tier nicht unnötigen Qualen aussetzen. Die Antwort auf deine Frage – und ich weiß, daß das sehr hart klingt – ist, daß dieses Pferd verhungern muß. Es leidet schon lange. Das siehst du ja selbst. Es gibt keinen Grund, das arme Tier noch länger zu quälen.“
Am nächsten Tag sollte ein Auto kommen und Siboney abholen.
Ich wußte nicht mehr ein noch aus. Ich führte mein Fohlen ein letztes Mal über den Hof. Ich stolperte, und fiel hin. Meine Knie bluteten. Aber das merkte ich erst später.
Das Auto kam. Der Fahrer tauschte Siboneys weiches Lederhalfter mit geübter Hand gegen eine Kette aus. Eine kalte Eisenkette, wie Kühe sie haben. Dann zerrte er mein kleines Fohlen über die Ladebrücke in das Dunkel seines Wagens.
Eine Kette als Halfter. Ich glaube, das war das Schlimmste. Ich stand noch lange auf dem Hof. Endlich ging ich mit schweren Schritten zu meiner Wohnung.
Mit Lasse und Goldie auf vier Rädern
Am nächsten Nachmittag kurz nach vier Uhr klopfte es an meiner Tür.
„He“, sagte Kicki und steckte vorsichtig ihren Kopf herein. „Wie geht es dir?“
Meine Wohnung bestand aus einem gemütlichen Zimmer, einer riesengroßen Küche und einem winzigen Bad. Nebenan befand sich der Stall für meine Pferde – das heißt, jetzt besaß ich nur noch ein Pferd.
„Wie soll es mir schon gehen“, antwortete ich. Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke.
„Hast du etwas gegessen?“ wollte Kicki wissen.
„Ich habe keinen Hunger.“
Kicki setzte sich auf einen Stuhl neben mich: „Soll ich deinen Reitunterricht heute abend übernehmen?“
„Wieso? Ach ja, Reitunterricht …“ Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich hatte auch nichts vorbereitet. „Willst du das? Das ist sehr lieb von dir“, sagte ich dankbar. „Das Reitbuch mit den Namen liegt auf dem Küchentisch.“
Kicki schloß die Tür hinter sich. Ich war wieder allein.
Ich hörte Autos, die ankamen und wieder wegfuhren: Eltern brachten ihre Kinder. Abends wimmelte es immer von Menschen in der Reitschule. Ich dachte an meine kleinen Schüler, deren Reitunterricht jetzt begann. Ich stellte mir vor, wie sie anschließend sorglos und glücklich ihre Lieblingspferde verwöhnten …
Wieder knarrte meine Tür. Ehe ich aufstehen konnte, sprang Lasses Schäferhündin herein und leckte mir vor Freude das Gesicht.
„Hör auf! Das kitzelt.“
Lasse stiefelte in die Küche.
„Aufstehen! Wir wollen etwas Eßbares für dich machen!“
„Sieh mich bitte nicht an“, murmelte ich verlegen und flüchtete ins Badezimmer. Meine Haare waren zerzaust und meine Augen rotgeweint.
„Ich kann nichts essen“, rief ich und bürstete meine Haare.
„Unsinn“, widersprach Lasse. „Ich brate jetzt Eier, Wurst und Kartoffeln mit Kümmel. Dazu trinken wir Hagebuttentee.“
„Ist das meine oder deine Küche?“ brummte ich.
„Jemand muß sich schließlich um dich kümmern“, meinte Lasse und stellte die Bratpfanne auf den Herd.
Es schmeckte herrlich. Erstaunlicherweise fühlte ich mich viel besser, nachdem ich etwas gegessen hatte.
„Du kannst richtig gut kochen“, gab ich neidvoll zu.
„Ich habe eine Idee“, antwortete Lasse. „Wir fahren jetzt zu mir. Dann kannst du Cayenne näher kennenlernen.“
„Meinetwegen“, sagte ich. Es war wunderbar, daß Lasse sich so um mich kümmerte. Aber das könnte ich ihm nie sagen.