Lisbeth Pahnke

Britta und die Pferde


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du bist ein Genie“, lobte Lasse. „Warum bin ich darauf nicht selbst gekommen? Mit dem Wagenheber müßte es gehen.“

      „Halt“, rief ich Lasse nach, der schon zum Auto zurücklaufen wollte. „Erst müssen wir uns um das Kitz kümmern. Oder hast du alles vergessen, was du im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hast?“

      „Britta, du hast schon wieder recht“, staunte Lasse. „Ich hole schnell den Verbandskasten und versuche, das Auto etwas näher heranzuschieben, damit wir im Scheinwerferlicht besser sehen können.“

      Ich kniete mich neben das Reh und streichelte den kleinen, hilflosen Körper. Dabei spürte ich, wie sein Herz unter meinen Händen noch aufgeregter klopfte.

      „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, flüsterte ich. „Ich bin nicht dein Feind. Ich tue dir nichts.“

      Goldie schlich näher.

      Zuerst beschnupperte sie das fremde Wesen neugierig, dann winselte sie leise und stupste es ganz vorsichtig. Als das Kitz daraufhin vor Schreck wieder zu entkommen versuchte, leckte Goldie es zart und sanft mit ihrer Zunge, um es zu beruhigen. Das kleine Reh hatte Goldies Mutterinstinkte geweckt.

      Lasse traute seinen Augen nicht, als er im Scheinwerferlicht des Autos, das er auf der glatten Straße ohne allzugroße Mühe näherschieben konnte, diese zärtliche Hilfsbereitschaft erblickte.

      „Ist Goldie nicht wunderbar?“ strahlte ich. „Sie hat das Kleine in wenigen Minuten so beruhigt, daß es nicht mehr zittert und beinahe eingeschlafen ist.“

      „Dann wird es dir ja nicht mehr schwerfallen, deine Erste-Hilfe-Kenntnisse sachkundig und perfekt wie eine richtige Krankenschwester anzuwenden“, neckte Lasse mich und überreichte mir den Verbandskasten.

      „Spotte nicht, sondern bring mir lieber vier kräftige Zweige, damit ich die Läufe schienen kann“, erwiderte ich.

      Während Lasse gehorsam mit seiner Taschenlampe in den Wald stapfte, zerschnitt ich zwei Mullbinden in mehrere gleichlange Stücke.

      Dank Goldie hatte sich das Kitz so weit entspannt, daß es sich kaum noch wehrte, als wir seine Läufe notdürftig schienten. Ich bildete mir ein, fast so etwas wie Zutrauen und Dankbarkeit in seinen immer noch ängstlichen Augen zu sehen.

      „Ich messe jetzt meine Kräfte mit dem verbeulten Kotflügel“, meinte Lasse. „Gehe ich als Sieger hervor, betten wir das Reh in den Kofferraum und transportieren es so schnell wie möglich zu meinem Onkel.“

      „Ich setze auf Sieg“, sagte ich zuversichtlich. Ich ging ebenfalls zum Wagen und richtete im Kofferraum ein behelfsmäßiges, aber weiches Lager ein. Goldie bewachte unterdessen unseren kleinen Patienten.

      Lasse wurde rasch mit dem Kotflügel fertig. Aber als wir das Reh gemeinsam hochhoben, erwartete uns eine böse Überraschung: Das Tier blutete heftig aus einer offenbar tiefen Wunde am Oberlauf. Bisher hatte das Reh nur auf einer Seite gelegen und deshalb hatte ich diese Verletzung nicht gesehen. Vielleicht blutete die Wunde auch nur durch die Bewegung stärker.

      „Desinfizieren und abbinden“, schlug Lasse vor. „So können wir nicht fahren.“

      „Desinfizieren?“ rief ich entrüstet. „Man sollte nicht glauben, daß du der Neffe eines Tierarztes bist. Falls die Wunde so tief ist, daß sie genäht werden muß, kann der Arzt das nach Verwendung eines Desinfektionsmittels unter Umständen nicht mehr tun. Aber bring bitte schnell noch eine Mullbinde, und laß uns sicherheitshalber den Lauf oberhalb der Wunde abbinden.“

      Endlich hatten wir es geschafft: Das Rehkitz lag in eine alte Decke gehüllt im Kofferraum. Neben ihm saß Goldie, die das Kleine nicht aus den Augen lassen wollte.

      „Und nun?“ fragte ich ratlos. „Wir können den Kofferraum nicht offen lassen. Aber wir können ihn auch nicht schließen, weil die beiden Tiere dann keine Luft mehr bekommen.“

      „Daran habe ich längst gedacht“, antwortete Lasse. „Wir ziehen das Abschleppseil einfach durch die beiden halb geöffneten Seitenfenster und schlingen es um den Kofferraumdeckel, damit er beim Fahren nicht zuklappen kann.“

      „Diesmal bist du das Genie“, lobte ich ihn anerkennend.

      Lasse und ich kletterten auf unsere Sitze.

      „Wie viele Stunden sind eigentlich seit dem Unfall vergangen?“ fragte ich und merkte erst jetzt, wie erschöpft ich war.

      Lasse sah auf die Uhr und grinste: „Genau zwanzig Minuten. Mit deinem Zeitgefühl scheint es nicht weit her zu sein.“

      Ich schüttelte verwundert den Kopf. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber ich war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken.

      Der Wagen rollte langsam und vorsichtig durch die Dunkelheit. Das leise, gleichmäßige Surren des Motors schläferte mich ein. Aber immer wieder zogen die Aufregungen der letzten Minuten an mir vorüber.

      Wie hoch würde der Schaden am Auto wohl sein …? Wenigstens kein Totalschaden, es fuhr ja wieder. Und Lasses Onkel …? Wie würde er reagieren …? Mußte Lasse die Reparaturen von seinem Taschengeld bezahlen …? Wovon sollte er dann noch Cayenne ernähren …?

      Ich habe Freunde gefunden

      Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor dem Haupteingang.

      Doktor Södergren hatte den Hof erst vor kurzem gekauft. Die Nacht verschluckte das Haus, nur hinter den Fenstern leuchtete es hell und einladend. In der Diele roch es nach Kerzen und gebratenen Äpfeln. Lasses Onkel und Tante saßen in der Küche. Es war eine große, altmodische, urgemütliche Küche. Tisch und Stühle standen in der Mitte. An der Wand lud eine lange, weißgestrichene Bank mit rotweiß-karierten Baumwollkissen zum Sitzen ein. Kaffeeduft stieg in unsere Nasen.

      „Euch treibt wohl der Hunger endlich nach Hause“, begrüßte uns Lasses Tante freundlich. „Setzt euch. Der Kaffee ist gerade fertig. Und Bratäpfel gibt es auch.“

      „Ich wußte nicht, daß es so weit zur Reitschule ist“, sagte Doktor Södergren mit gespielter Überraschung und schaute von seiner Zeitung auf. „Gestern nachmittag kam mir der Weg ziemlich kurz vor.“

      Lasse und ich blickten uns verstohlen an. Wie konnten wir ihm möglichst schonend von dem Unfall berichten?

      „Ja …“, begann Lasse vorsichtig, „die Sache ist nämlich so … Wir wurden aufgehalten … Aber wir haben etwas mitgebracht …“

      „Es liegt im Kofferraum und braucht dringend Hilfe.“

      In meiner Stimme lag die Aufregung der letzten Stunde, und vor allem die Angst um das verletzte Reh.

      Lasses Onkel legte sofort seine Zeitung zur Seite, stand auf und sah mich mit ernsten Augen an.

      „Mir ist ein Reh ins Auto gelaufen“, erklärte Lasse. „Es lebt, aber …“

      „Lasse konnte nichts dafür“, unterbrach ich ihn schnell. „Er drosselte nach dem Warnschild das Tempo und fuhr wirklich ganz langsam …“

      „Und das soll ich euch glauben?“ fragte Doktor Södergren und schaute uns über den Rand seiner Brille mißtrauisch an. „Warum ist das Reh dann verletzt? Ihr hättet doch bremsen oder ausweichen können.“

      „Das habe ich ja auch versucht“, erwiderte Lasse. „Aber der Wagen kam ins Rutschen, als ich auf die Bremse trat. Spiegelndes Glatteis.“

      „Also doch zu schnell gefahren“, entschied der Tierarzt.

      Er hatte natürlich recht.

      Weitere Erklärungen waren zwecklos. Wir machten ein zerknirschtes Gesicht und gingen gemeinsam hinaus. Lasse und sein Onkel trugen das arme Reh behutsam in die Praxis.

      „Die Wunde muß ich gleich nähen“, stellte Doktor Södergren fest, während er das Reh untersuchte. „Ihr habt die Arterie gut abgebunden. Auch die gebrochenen Läufe sind fast perfekt geschient. Unter den gegebenen Umständen hätte