Hanne-Vibeke Holst

Die Kronprinzessin


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ich!«, sagte sie. »Für die Zukunft.«

      *

      Henrik Sand Jensen war 49. Ein Detail, das für seine neue Ministerin vielleicht nicht sonderlich denkwürdig war, aber dafür von extremer Bedeutung für ihn selbst. Weil jeder Tag bedeutete, einen Tag näher an der Fünfzig zu sein. Was in seiner Familie gleichbedeutend mit »Deadline« war. Buchstäblich. Seine Eltern waren im Abstand von wenigen Monaten gestorben, kurz nach dem fünfzigsten Geburtstag. Der Vater war noch keine 51 gewesen, die Mutter wurde nur 52, und so ging es weiter. Seinen großen Bruder hatte er im letzten Jahr beerdigen müssen, 53-jährig, um seine Vettern stand es auch nicht gut, und seine Großeltern hatte er kaum mehr kennen gelernt. Darum erschütterte ihn Søren Schouws öffentlicher Zusammenbruch auch mehr, als er sich anmerken ließ. Und deshalb war er schon lange, nämlich seit der Verfall sichtbar geworden war, in Opposition zu seinem früheren Chef getreten. Es provozierte ihn ganz einfach, zusehen zu müssen, wie sich ein Mann auf diese Weise selbst zerstörte. Er konnte es nicht leiden, weder die Trinkerei noch die Betrügerei, noch die Heulerei, die folgte, wenn Schouw dem Selbstmitleid nachgab, den Selbstvorwürfen und allem anderen, was die Vorsilbe Selbst- hat. Was ihn betraf, erlaubte er sich nur Selbstdisziplin, in dem Versuch, das Schicksal auszusetzen oder abzuwenden, das er, seit er ein Junge gewesen war, vorhergesehen hatte. Dass auch er dazu bestimmt war, jung zu sterben. Was ihn in einigen wilden Jahren auch dazu verleitet hatte, in einem fatalistischen Trotz gegenüber der Übermacht zu leben – wenn er ohnehin dazu ausersehen war, unangemessen früh umzukommen, dann konnte er ebenso gut mit dem Tod spielen und sein Motorrad in spanischen Gebirgskurven den Asphalt küssen lassen, in Marokko verdreckt und ausgebrannt von Haschrausch zu Haschrausch taumeln, in Marseille billige Hafennutten vögeln und in Hamburg zusammengeschlagen in einem Rinnstein aufwachen.

      Nachdem er daran auch nicht gestorben war, hatte er keine Lust mehr gehabt, seine Jugend an einen Todestrieb zu verschwenden, sondern hatte sich still und leise an der Universität eingeschrieben, geheiratet, eine Familie gegründet, ein Reihenhaus in Virum gekauft und eine vernünftige Karriere eingeschlagen, die noch lange nicht ihren Gipfel erreicht hatte. Er wusste, dass er es in sich hatte – die Begabung, das Format und den Instinkt, um weiterzukommen, sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu platzieren, sodass andere begriffen, dass man um ihn nicht herumkam. Trotz seiner scharfen Zunge und einer gewissen eigensinnigen Arroganz, die ab und an mit Abgestumpftheit verwechselt wurde. Aber Henrik Sand war nicht abgestumpft. Wie der, der eng umschlungen mit dem Tod lebt, war er leicht zu erschüttern, aber genau deshalb hatte er sich eine drastische westjütländische Art zugelegt, die zarte Seelen einschüchterte. Mit denen er im Übrigen sowieso keine große Geduld hatte. Er konnte Sentimentalität und Romantisierung nicht ertragen, was manche fehlinterpretierten, indem sie glaubten, er würde sich nichts aus Frauen machen. Er liebte Frauen, war völlig abhängig von seiner Ehefrau, einer begabten Keramikerin, und vergötterte seine beiden jungen Töchter. Was er verabscheute, war alles Weibische, besonders bei Männern. Was absolut nicht bedeutete, dass er den Machismo verherrlicht hätte. Aufgeblasene, sich selbst überschätzende Männer, die partout ihre Muskeln spielen lassen mussten, waren wohl das Lächerlichste, was Henrik Sand sich vorstellen konnte. Solche Typen zerpflückte er mit größtem Vergnügen, besonders gerne vor Publikum.

      Alles in allem wäre es übertrieben zu behaupten, dass Henrik Sand im Ministerium geradezu geliebt worden wäre. Aber seit er da war, hatte doch eine gewisse Auslese stattgefunden, sodass die, die mit ihm nicht klarkamen, sich wegbeworben hatten, häufig nach Aufforderung. Und die, die zurückgeblieben waren, mussten einsehen, dass es Sands Verdienst war, dass das alte »weich und langhaarig«-Image – das am Ministerium und nicht zuletzt an seinen Mitarbeitern, die früher selten ernst genommen worden waren, geklebt hatte – weggezaubert und von scharf geschliffenen Kanten und einem »modernen Profil« abgelöst worden war. Die Umweltleute waren respektiert als Leute, die ihre Sache bis hin zu den technischsten und spitzfindigsten Details beherrschten und die oft ganz vorne mit dabei waren. So hatte es auch nicht geschadet, dass man über mehrere Jahre einen »starken Minister« gehabt hatte, dem es dank seiner guten Beziehungen zum Finanzminister gelungen war, das Ministerium so ausgabenschwer zu machen, dass es mehrere Stufen in der Hierarchie nach oben gestiegen war. Dass Sand und Schouw ein effektives Team waren, war allgemein bekannt. Dass möglicherweise in den letzten Jahren immer mehr Sand ins Getriebe gekommen war, war vielleicht weniger bekannt, aber doch ein des Öfteren wiederkehrendes Thema in kollegialen Gesprächen beim Freitagsrotwein. Ob Sand weg wollte. Ob er sich zu den Budgetbeißern wegbewerben und eine Karriere im Finanzministerium starten wollte, von dem viele meinten, dass er dort rechtmäßig hingehörte.

      Und in den zwei Stunden, in denen Sand alleine bei der neuen Ministerin war und ihr das erste grundlegende Briefing über die Situation früher, jetzt und in Zukunft erteilte, waren heftige Spekulationen im Gange, was nun passieren würde. Würde er bleiben, oder würde er sich schnellstmöglich wegbewerben? Oder eher, wie schnell würde es gehen? Die meisten waren sich einig, dass die neue Ministerin zunächst »schwach« war, wenn es auch verhältnismäßig imponierend war, wie sie die peinliche Übergabe gemeistert hatte. Aber alle wussten, dass es Minister, die von außen kamen, immer schwer hatten. Und eine junge, unerprobte Frau mit zwei kleinen Kindern und einer Nichtregierungsorganisation als Hintergrund hatte nicht nur einen schweren Stand. Das kam einem Kamikazef lug gleich. So war also – unabhängig davon, ob man vielleicht gewisse persönliche Sympathien für Charlotte Damgaard hegte – doch Unruhe in den Reihen. Schließlich riss sich niemand darum, an Bord eines sinkenden Schiffs zu sein. Und soweit man überhaupt behaupten konnte, den Work-aholic, Marathonläufer und Konkurrenz-Menschen Henrik Sand zu kennen, glaubte man absolut nicht, dass das ein Platz war, an dem er den »Rest seiner schönen Jugend« zu verplempern gedachte. Dazu kam noch die sichere Erwartung, dass die Chemie zwischen den beiden gar nicht stimmen könnte, was für sich genommen schon eine konstruktive Zusammenarbeit ausschließen würde. Eine romantische Idealistin und ein alter Zyniker. Das würde schief gehen. Oder eher – gar nicht gehen. Sand würde sie verlassen und seine Mitarbeiter mit dem Äffchen sitzen lassen. Ihre Tage als das renommierteste Umweltministerium Europas, ja der ganzen Welt, wären gezählt.

      Eine Analyse, die immer mehr einleuchtete und sich über Telefone und E-Mails verbreitete, vom Amtssitz zur Verwaltung, bis hinein in die entferntesten Staatsforste an diesem brodelnden Nachmittag. Aber das zeigte nur, wie schlecht man den Leiter des Ministerbüros eigentlich kannte. Denn zum einen war Henrik Sand nicht annähernd so vorurteilsbeladen wie seine Mitarbeiter. Zum anderen betrachtete er Charlotte Damgaard überhaupt nicht als jung, unerprobt und romantisch. Er erlebte sie im Gegenteil als frappierend schnelle Schülerin, schnell im Kopf, schnell am Drücker und unterhaltsam im Zusammensein. Aufbau und Organisation des Ministeriums kannte sie im Voraus, den Stoff konnte sie in groben Zügen, und über die Reibereien, die ein Teil des Vermächtnisses waren, wusste sie durch ihren früheren Job auch einiges. Selbst mit der EU, die aus der Sicht eines Beamten die bürokratische Hölle war, war sie verblüffend gut vertraut.

      »Waren Sie Schattenministerin, oder was?«, musste er einfach fragen, als sie schon wieder nickte und den Satz zu Ende führte, den er gerade begonnen hatte.

      »Wenn man eine gute Lobbyistin sein will, ist man dazu geradezu gezwungen! Und wir haben ja auch kein gigantisches Beamten-Netz, das uns füttert.«

      »Hatten«, musste er sie korrigieren. »Sie hatten kein gigantisches Beamten-Netz. Jetzt haben Sie es. Und ich kann Ihnen ebenso gut gleich raten, es auch zu nutzen. Als Minister ist es nicht nötig, sich in alle Details zu knien.«

      »Dafür habe ich Leute?«

      »Ganz genau. Zu glauben, man müsste alles können, ist ein ganz typischer Anfängerfehler.«

      »Der Minister soll gefälligst Politik machen!«, lachte sie und fragte, ob sie eine Zigarette schnorren könne.

      »Ich rauche nicht. Aber es gibt Verschiedenes hier«, sagte er und schob ihr die Zigarrenkiste hin.

      »Im Prinzip tue ich das auch nicht«, erwiderte sie und versprach, dass das die erste und einzige sein würde.

      »Sie sollten nicht zu viel versprechen! Das ist eine weitere wichtige Regel in der Politik! Vielleicht sogar die wichtigste.«

      »Okay,