einer solchen Situation auf seinen eigenen Stil bestand, weil er sich selber nicht untreu werden wollte, zeigt seine Souveränität in dieser bedrohlichen Situation. Mitunter erscheint es so, als sei ihm gar nicht klar, wie sehr seine Äußerungen die Richter provozieren könnten. Aber das wäre ein Irrtum. Tatsächlich war er durch das drohende Urteil weitgehend unbeeindruckt. Er hatte keine Angst vor dem Todesurteil, weil der Tod ihm nicht beunruhigend erschien. Das gibt seinem Auftritt die persönliche und historische Größe, die auch fast zweieinhalb Jahrtausende später noch nachwirkt. „Das Schicksal des Sokrates ist eines der wesentlichen Themen der abendländischen Geistesgeschichte“. So beginnt Romano Guardini sein Werk über den Tod des Sokrates, das nach seinem Erscheinen in den 1950er Jahren große Auflagenzahlen erreichte.
Der Auftritt des Sokrates vor den Richtern Athens war ein Auftritt in einer historischen Umbruchsituation. Verschiedene bedeutende Reden, die in diesem kleinen Band wiedergegeben werden, sind in solchen Situationen entstanden. Die öffentliche Stimmung wandelte sich und einzelne Menschen hatten den Mut, für ihre Prinzipien einzutreten. Dabei beriefen sie sich auf grundsätzliche Werte, die ihr Leben trugen. Es ist diese grundsätzliche Herausforderung, die ihren Reden dauerhaften Wert verleit. Zumindest solange diese Werte noch immer eine soziale Bindekraft haben.
Sokrates war über siebzig Jahre alt, als seine Mitbürger ihn anklagten. Sein Auftritt war vielen Athenern wohlvertraut. Er war durchaus nicht bei allen beliebt, Aristophanes hat ihn scharf karrikiert, aber als eine Gefahr war er bislang nicht erschienen. Er hatte die Institutionen und Gesetze Athens respektiert und unterstützt, darauf legte er großen Wert, und er hatte mit dem Heer Athens in den Kriegen mit den Persern und den Spartanern gekämpft. Er war kein sozialer Unruhestifter. Sein Ressort war die moralische Verunsicherung der allzu Selbstgewissen, indem er ihre Gewissheiten hinterfragte. Sokrates hielt keine öffentlichen Reden, wie mancher seiner Zeitgenossen, die als trainierte Redner viel Geld verdienen konnten. Sokrates pflegte den Dialog. Dafür ließ er sich nicht bezahlen. Seine Unterweisungen waren keine Unterrichtsstunden, sie entwickelten sich vielmehr aus alltäglichen Situationen. Seinen Richtern gegenüber verwies Sokrates auf seine Armut als Beweis für seine Integrität. Er war Bildhauer, bevor er sich der Philosophie zuwandte und stammte aus eher einfachen Verhältnissen. Seine Mutter war Hebamme gewesen und er führte ihre Tätigkeit als Bild für seine philosophische Kunst an, mit der er durch seine Nachfragen seinen Gesprächspartnern zur Geburt neuer Gedanken verhalf. Mit der philosophischen Schulung hätte sich durchaus Geld verdienen lassen. Die zeitgenössischen Sophisten, die ihre Schüler in der Dialektik der Argumentation unterwiesen sich, ließen sich ihre Künste mitunter teuer bezahlen. Das war möglich, weil diese Art der Bildung vor allem die Jugend der reichen Familien interessierte. Es war dieses Milieu der freien Künste (artes liberales), d.h. der Künste, die ein freier Mann ausüben konnte, der nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste, aus dem viele der jüngeren Schüler des Sokrates stammten. Daher waren sie auch in der Lage, ihm eine finanzielle Unterstützung im Prozess anzubieten. Sokrates lehnte sie ab. Ebenso, wie er es später ablehnte, sich durch dieses Geld seiner Schüler einen Fluchtweg aus dem Kerker zu erkaufen.
Wenn ein Mann, der nach den Bedingungen seiner Zeit als alt gelten konnte, und der seine hartnäckigen Nachforschungen sicher nicht mehr sehr lange in der gewohnten Weise hätte fortsetzen können, plötzlich als gefährliche Bedrohung erschien, so deutet das auf einen Wandel in der öffentlichen Stimmung Athens hin. In der Tat verträgt sich der Prozess gegen Sokrates kaum mit dem Bild, das Perikles von der Kultur Athens gezeichnet hatte. Perikles hatte eine Generation vor Sokrates gesprochen, um das Jahr 431/30 v. Chr. Der Prozess gegen Sokrates fand im Jahr 399 v. Chr. statt. Sokrates hatte Perikles gekannt, er selber war um 469 v. Chr. geboren worden. Doch in der Zwischenzeit hatte Athen einen langen Krieg geführt, und es hatte ihn verloren. Der Peloponnesische Krieg, dessen Beginn den Anlass zur Rede des Perikles geboten hatte, dauerte fast 30 Jahre und er beendete die Phase des klassischen Athen. 404 vor Christus mussten sich die Athener Sparta geschlagen geben, nachdem eine Reihe verheerender militärischer Fehlschläge eine Fortsetzung unmöglich gemacht hatten. Die Sieger beendeten zunächst die Demokratie und installierten ein kurzlebiges Regime von 30 Tyrannen. Zwar hatte diese Regierung nicht lange Bestand, und die Athener konnten eine Verfassung wieder herstellen, die der alten nahe kam. Aber der alte Geist war dem Krieg zum Opfer gefallen. Es war nicht nur der Geist, sondern die attische Hegemonie, die Machtstellung im Seebund, aufrechterhalten und verteidigt durch die Flotte, im peloponnesischen Krieg untergegangen. Hochkulturen basieren nicht allein auf Ideen, und die Vormacht Athens, die manche kleinere griechische Stadt zur Unterwerfung gezwungen hatte, war die Grundlage jener Kultur gewesen, deren Lob Perikles so eindringlich formuliert hatte. Mancher Verbündete war froh über diese Entwicklung, aber Athen hatte die gelassene Liberalität verloren, die Perikles so geschätzt hatte, und die eher eine Haltung der Stärke als der Verunsicherung war.
Athen hatte unter seiner Niederlage schwer gelitten, und ein neuer Typ des Politikers war in den langen Jahren des Krieges emporgekommen. Männer wie Anytos, einer der Kläger gegen Sokrates. Er war durch sein Gewerbe reich geworden, er gehörte nicht zur Schicht der reichen Aristokraten, die die attische Politik der klassischen Zeit geprägt hatten. Ihm fehlte die Gelassenheit, die der alte Reichtum mit sich brachte. So sah er in Sokrates eine ernste Gefahr. Und er war nicht allein, denn 280 gegen 221 Richter votierten für das Todesurteil gegen den alten Philosophen. Athen hatte sich gewandelt und Sokrates wurde ein Opfer dieses Wandels.
Er nahm es mit Gelassenheit auf. Sokrates gehört zu den Menschen, die wir vor allem aus der Perspektive ihres Todes kennenlernen, und das Bild, das er bei dieser Gelegenheit bietet, ist eindrucksvoll. In den großen Dialogen, die Platon überliefert hat, und in denen uns sicher ein platonisch gezeichneter Sokrates begegnet, erleben wir einen Menschen, der die großen Fragen nicht nur furchtlos erörtert und eine konsequente Haltung verlangt, selbst wenn sie mit dem Leben bezahlt werden muss. Er steht für diese Worte auch ein, und obwohl er eigentlich unschuldig ist, nimmt er das Todeurteil an, weil es auf eine Weise zustande gekommen war, die er grundsätzlich billigte. Er war bereit, den Preis für eine Gesetzesordnung zu bezahlen, in deren Schutz er sein Leben verbracht hatte, und für deren Verteidigung er wiederholt gekämpft hatte. Nun fiel die Entscheidung gegen ihn, aber seine Loyalität gegenüber den Gesetzen Athens, die eine solche Entscheidung ermöglicht hatten, hielt ihn davon ab, sich den Konsequenzen dieses Urteils zu entziehen. Für ein Gemeinwesen, das auf einer Verfassungsordnung aufbaut, ist dies in der Tat eine vorbildliche Haltung. Und eine seltene.
Der hier ausgewählte Text ist der letzte Teil der „Apologie“ des Sokrates. Er hat sich bereits gegen die Ankläger verteidigt, er hat seine Lebensweise in Athen dargelegt, er ist schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden. Nun richtet er den letzten Teil seines Auftrittes vor dem großen Gerichtshof von Athen an seine Anhänger, Schüler und Freunde. Ein nüchterner alter Mann nimmt dem Tod seinen Schrecken. Es ist nicht nur eine Frage der Logik, es ist auch eine Frage des Temperaments. Sokrates nähert sich dem Lebensende mit dem Verstand. Sein Todesbild ist frei von Angst, aber es ist auch frei von einer sinnlichen Dimension. Wenn er die Aussicht auf die vielen Gespräche mit den Helden des Homer entwirft, auf die Dialoge mit Odysseus, so kommt ihm die Frage nicht in den Sinn, ob das Leben nur aus Gesprächen und Worten besteht? Man fühlt sich angesichts solcher Aussichten auch an die Mühen eines solchen Schattendaseins erinnert, das keine sinnlichen Erfahrungen mehr zulässt, und über das sich mancher Held der Antike bitter beklagte. Sokrates schreckte diese Einschränkung nicht. Sokrates ist häufig mit Christus verglichen worden, und seine Berufung auf die starke göttliche Stimme, die ihn vor Handlungen gewarnt hatte, die schlecht für ihn waren, ist in die Nähe des christlichen Gewissens gestellt worden. Aber der Gott, auf den sich Sokrates seinen Richtern gegenüber beruft, ist kein christlicher Gott, und die Gewissheit, mit der Sokrates seinem Tod entgegensieht, ist noch frei von einer christlichen Unruhe angesichts des göttlichen Gerichts. Man fühlt sich durchaus versucht, die Rede des Sokrates angesichts seines Todes mit einer anderen großen Ansprache in ähnlicher Sache zu vergleichen, die unter ganz anderen Umständen vorgetragen wurde: Hamlets großem Monolog über „Sein oder Nichtsein“. Dazu ist hier nicht der Ort, aber es ist doch auffällig, wie unterschiedlich die Reaktionen angesichts solcher grundsätzlicher Erfahrungen sind. Auch Hamlet teilt die Erwartung: „Sterben – schlafen – schlafen!“ aber seine Reaktion ist anders: „Nur dass die Furcht vor jenem unentdeckten Land, aus dem/kein