Najem Wali

Soad und das Militär


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in dieser Gegend aus, vor allem kannte er die Lokale. Auch wenn er die meisten von ihnen in jener Zeit, als wir uns kennengelernt hatten, nie frequentierte, hatte er gern in einem von ihnen, dem Restaurant Arabesque mit seiner angeschlossenen Bar, Klarinette gespielt. Gewohnt hatte Simon damals stets in Gegenden, die von hier, wo wir jetzt herumliefen, weit entfernt lagen. Das Viertel hatte sich seitdem stark verändert. Wer in diese Gassen vordringen wollte, musste vor allem seine Sinne schärfen. Simons Art, sich fortzubewegen, sein wiederholtes Umwenden, deutete darauf hin, dass er erwog, verfolgt zu werden. Er hatte sich eine innere Landkarte erschaffen und im Gedächtnis bewahrt. Wie ein Schachprofi konnte er Dutzende Züge kombinieren. Kairo hatte im Auge dessen, der die Stadt nach einer gewissen Zeitspanne wieder aufsuchte, einen enormen Wandel erlebt. Einzig seine Einwohner hatten diese Veränderung erst vor drei Jahren wirklich wahrgenommen, als sie sich, eines Morgens beim Aufwachen, plötzlich ohne die Ordnungskräfte des Staates wiederfanden. Meine persönlichen Erinnerungen an Kairo erschienen mir nun wie ein Fotoalbum aus längst vergangenen Zeiten, in denen junge Paare Hand in Hand über die Nil-Promenade flanierten, die Mädchen in kurzen Röcken, die jungen Männer mit langem Haar und in engen Jeans. Man saß damals auf den Terrassen der offenen Cafés, lachte und genoss seine Freizeit. Heute war alles anders. Der religiöse Fanatismus hatte inzwischen das Land wie eine Epidemie überfallen, und zugleich glichen die Straßen, Gassen und Gässchen, durch die wir gerade zogen, einem offenen Markt, wo fliegende Händler von jedem noch so kleinen Stück Gehsteig Besitz ergriffen hatten. Wer für seinen Tisch keinen Platz mehr hatte finden können, musste improvisieren und Plastikplanen, große Tücher oder Pappstücke direkt auf den Boden ausbreiten, um seine Ware feilzubieten. Verkauft wurden Kleidung, Spiele und Elektroartikel, hier und da Dosen mit Softdrinks oder Esswaren, vor allem Ful und Taamiya. In dieser Gegend war die Landflucht der Ägypter mit Händen zu greifen. Aber, anders als ich zunächst vermutet hatte, war diese nicht der Grund dafür, dass die Einwohnerzahl Kairos in den letzten Jahren um ein Vielfaches angewachsen war, die Menschen hatten sich früher schlichtweg auf Friedhöfen, Müllkippen und den ringsum liegenden Hügeln niedergelassen und es nur selten gewagt, bis in die Stadt vorzudringen. In den letzten drei Jahren jedoch war dies vermehrt geschehen. Im Stadtzentrum war der Staat abwesend, seine Machtstrukturen zerfallen, die Polizei kaum präsent. Allein das Militär und seine Panzer waren überall gegenwärtig. Die Militärs hatten zunächst nicht in die Proteste eingegriffen und abgewartet, bis der Hass der Jugend gegen die Muslimbrüder aufgeflammt war. Damit war ihr Moment gekommen. Sie hatten das Vakuum genutzt, die Schwäche des Staates und der Polizei, um ihre Macht zu demonstrieren und als Beschützer der Protestierer auf den Plan zu treten.

      Als wir nun endlich in eine menschenleere, enge dunkle Gasse traten, in der ein einziger Lichtstrahl von einem Balkon auf uns herableuchtete, blieb Simon stehen. »Komm mit hinauf!«, sagte er mit seiner nun natürlichen Stimme und wies auf ein Hotelschild an dem besagten Balkon. »Exquisite Getränke habe ich keine zu bieten, aber wir teilen, was ich habe.«

      Das Layali al-Qahira gehört zu jenen Hotels, für die Kairo einst berühmt war. Die meisten dieser Etablissements belegen den ersten, zweiten oder noch höher gelegenen Stock eines in einer Sackgasse errichteten Gebäudes. Unterkünfte wie diese des Nachts zu betreten, ist für jemanden, der Kairo nicht kennt, beängstigend. Tagsüber lässt es sich vermeiden, mit dem alten, meist Angst einflößenden Lift nach oben zu fahren. Nachts allerdings wird es schwierig, die Treppen zu nutzen, auf denen die Bawwabs der Firmenbüros schlafen, die mehrere Stockwerke eines solchen Gebäudes belegen. Diese Häuser wurden Ende des neunzehnten oder Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet – geräumig, bequem und größtenteils vornehm gestaltet. Doch der einsetzende Tourismus mit seinen neuen Reisezielen zu diversen Badeorten und den Ufern des Nils sorgte dafür, dass die Hotels im alten Kairo ihren Glanz verloren und ihr Niedergang einsetzte. Sie füllten sich allmählich mit Gästen, die vom Land kamen oder als ledig lebende Angestellte aus Kairo selbst stammten oder als alleinstehende Frauen aus anderen Städten der Arbeit wegen hergezogen waren. Im Zuge dessen teilte man die alte Architektur neu auf, verkleinerte die einst großzügig gehaltenen Räume, riss Wände ein und baute zusätzliche Zimmer auf den Fluren, den Dächern, den Balkonen. Das Vienna Hostel etwa, meine Unterkunft während der ersten Tage meiner Reise, und das Windsor, wo ich noch ein, zwei Stunden zuvor etwas getrunken hatte, liefern Beispiele für das Leben im alten Kairo. Hier hatten sich bis in die Achtzigerjahre hinein die Vergnügungslokale und Bars aneinandergereiht, Seite an Seite mit Nachtclubs, in denen auf Bühnen gesungen und getanzt wurde, während die Gäste im Zuschauerraum vor ihren Getränken und Appetithäppchen saßen und zuhörten.

      Das Hotel Layali al-Qahira wirkte, als könne es jeden Moment in sich zusammenbrechen. Selbst die steinernen Stufen, die zu Simons Zimmer hinaufführten, schienen unter unseren Tritten zu zerbröseln. Glücklicherweise ließen die vier oder fünf Männer, die sich in ihren oberägyptischen Dschilbabs und Kufijas mit Pappen als Betten auf den Treppenabsätzen schlafen gelegt hatten, den Gästen des Hotels einen kleinen Durchgang. Vielleicht war ihnen auch bewusst, dass der Aufzug nicht funktionierte – falls es überhaupt einen gab, mir war jedenfalls bei meinen beiden Besuchen dort keiner aufgefallen. Als wir die Treppen hinaufgingen, wirbelten wir mit jedem Tritt eine kleine Staubwolke auf, sodass ich mir größte Mühe geben musste, nicht zu niesen. Selbst die Wände und Decken im Hotel waren von einer dichten Staubschicht überzogen.

      Simons Zimmer schließlich ähnelte einer Gefängniszelle, wie man sie aus dem Kino kennt oder einige von uns sie auch tatsächlich erlebt haben. Der Raum war klein und dunkel. Das Bett, auf dessen Rand ich mich setzte, besaß keine Pfosten, die Matratze war nicht bezogen, die drei kleinen Kissen und die Bettdecke ebenso wenig. In einer Ecke befand sich ein winziger Tisch. Toilette und Bad lagen auf dem Gang. Dass Simon, der früher höchst komfortabel in einer mehr als hundert Quadratmeter großen Wohnung in Zamalek gelebt hatte, deren Architektur dem Pariser Jugendstil verpflichtet war, nun in diesem Hotel in einem solchen Zimmer nächtigte, wunderte mich. Was mich allerdings noch mehr erstaunte, war der kleine Kocher auf dem Tischchen. Alles deutete darauf hin, dass er es vermied auszugehen und sich sein Essen selbst zubereitete. Die wenigen Teller und Löffel, die Gewürze und zwei angebrochene Tüten Zucker und Salz verstärkten diesen Eindruck.

      »Nun siehst du, wohin es deinen Freund verschlagen hat«, sagte er und stellte sich ans Fenster, von dem sich, als er es öffnete, Staub erhob. »Hätte ich es dir in einem Café erzählt, hättest du mir nicht geglaubt.«

      »Wie dem auch sei«, antwortete ich, »nun sehe ich es ja.«

      »Wie dem auch sei«, nahm er meinen Satz auf Hocharabisch auf, »wir müssen unser Wiedersehen nach all den Jahren feiern.«

      »Das machen wir, mein Freund!«, erwiderte ich lächelnd und neugierig darauf, was er in den vergangenen dreizehn Jahren erlebt haben mochte.

      Am letzten Abend, an dem ich Simon gesehen hatte, war ich, wie an den Abenden zuvor auch, wegen meiner Geliebten Kismet ins Restaurant Arabesque gegangen. Sie sang hier hin und wieder mit einer Band aus drei Instrumentalisten, die Riq, Gitarre und Klarinette spielten. Mit Ausnahme des Klarinettisten, Simon, weiß ich ihre Namen nicht mehr, ich hatte aber auch kaum Kontakt zu ihnen. Wie gewöhnlich saßen Kismet und ich an jenem Abend an einem reservierten Tisch und warteten auf Simon, der sich noch schnell von seinen Kollegen verabschieden wollte. Als er wenige Minuten später erschien, sah ich ihn jedoch direkt auf einen an der Bar sitzenden elegant gekleideten Mann zusteuern, der, was mir merkwürdig erschien, der schummrigen Beleuchtung zum Trotz eine dunkle Sonnenbrille trug. Sein Alter war schwer zu schätzen, auf jeden Fall war Simon deutlich jünger als er. Tatsächlich hatte ich diesen Mann hier noch nie gesehen. Bei einem Getränk unterhielten sich die beiden. Der Mann hatte ein Glas Orangensaft vor sich stehen, Simon hingegen trank, wie üblich, ein Glas Rotwein. Während ihres gesamten Gesprächs kehrten uns die beiden den Rücken zu. Waren die Handbewegungen des Mannes aufgeregt? Ich bin mir nicht sicher. Dann sah ich plötzlich, wie er Simon am Arm festhielt und die Rechnung unterschrieb. Anschließend verließen sie gemeinsam die Bar.

      Das hatte sich, soweit ich mich erinnere, im Frühjahr 2001 zugetragen. Ich hielt mich damals wegen einer Recherche über Tabus im arabischen und europäischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts etwas länger in Kairo auf. Nach besagtem Abend rief ich Simon mehrmals an, aber er nahm nie ab. Als ich schließlich seine Wohnung in Zamalek aufsuchte, sagte man mir,