Najem Wali

Soad und das Militär


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      Drei Tage lang blieb das kleine, elegante Päckchen unangetastet auf dem Tisch in meinem Hotelzimmer liegen, wo ich es in der Nacht nach meiner Begegnung mit Simon abgelegt hatte. So neugierig ich auch gewesen sein mochte: Ich zögerte, es zu öffnen. Das zarte violette Papier, das schmale schwarze Band, die Sorgfalt, mit der es verpackt war – keinen Moment zweifelte ich daran, dass dies das Werk der Hände einer Frau war. Doch wer konnte diese Frau sein? Seit ich Simon kannte – kannte ich ihn denn? -, hatte ich kein einziges Mal mitbekommen, dass er eine Freundin gehabt oder von einer Frau gesprochen hätte. Unsere einstigen Gespräche hatten sich um fast alles gedreht: um Bücher, den Unterschied zwischen dem Leben im Westen und im Osten, die Lebensweise in Amerika und Ägypten, um New York und Kairo, Manhattan und Zamalek, die Begeisterung der Europäer für Länder, deren junge Bewohner bei erstbester Gelegenheit in den Westen abhauen, um den Krieg zwischen den USA und dem Irak, diejenigen zwischen Arabern und Israelis und die zahlreichen anderen Kriege auf dieser Welt und all die widerwärtigen Waffenhändler, die diese erst ermöglichen, um die europäische, die nordamerikanische und die aus dem Orient stammende Literatur, vor allem um deren Romane, denn, meinte Simon, über Lyrik zu reden, sei sinnlos, »Lyrik«, sagte er im gleichen Atemzug, »schreibt man, aber man spricht nicht darüber«, womit nicht gesagt war, dass er selbst Gedichte verfasste, nein, »Lyrik« betonte er, »ist ein inneres Bedürfnis, das sich dem Verstehen widersetzt«, aber bei all diesen Gesprächen, in denen wir meist unterschiedlicher Meinung waren, erwähnte er kein einziges Mal eine Frau, eine Freundin, eine Geliebte, eine Ehefrau oder wenigsten eine frühere Beziehung. Nur von seinen beiden Schwestern sprach er hin und wieder. Die eine hatte einen Rabbiner geheiratet und war zum Judentum konvertiert, die andere einen gläubigen Iraner und war Muslima oder Khomeini-Anhängerin geworden. Aber abgesehen von seinen beiden Schwestern und von seiner Mutter hatte Simon mir gegenüber nie eine Frau in seinem Leben erwähnt. Seine Mutter, wie er mir einmal erzählte, hatte nicht aufhören wollen, unter dem für sie befremdlichen Verhalten ihrer Kinder zu leiden, was nach dem Tod ihres Mannes, den ein Herzinfarkt dahingerafft hatte, nur noch schlimmer wurde, weil sie den Schock, von dem ihr Mann erfasst worden war, als er begriffen hatte, wohin es mit der Familie Syros gekommen war, für sein Herzversagen verantwortlich machte.

      Tatsächlich hat es genau zwei Frauen gegeben, die ich je in Simons Begleitung getroffen habe. Die eine, Sarah, war eine ziemlich unglückliche Mittdreißigerin aus Australien. Sie war, wie sie mir an einem Abend im Restaurant Estoril erzählte, ursprünglich nach Kairo gekommen, um einen Film über weibliche Genitalverstümmelung zu drehen. Sie hatte sich in einen jungen ägyptischen Journalisten namens Hamdi verliebt, der sie nach sechs Monaten sitzengelassen hatte. Sie wollte ihn unbedingt zurückgewinnen, war überzeugt, dass ihre Geschichte noch nicht vorbei war. Die Monate gingen ins Land, ihre Produktionsfirma kündigte ihr per Brief den Vertrag, »da Sie nun nach einem Jahr mit den Filmaufnahmen noch nicht einmal begonnen haben«, woraufhin sie schockartig begriff, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war und dass sie selbst keinen Cent mehr in der Tasche hatte und nicht mehr in ihr Land zurückkonnte. Sie weinte viel. Sie weinte ganze Tage lang. Sie weinte auch, als sie mir an jenem Abend im Estoril ihre Geschichte erzählte. Wie ein Bruder habe Simon ihr immer wieder zur Seite gestanden, sagte sie. An eine Rückkehr nach Australien mochte sie nicht denken, bevor die Geschichte mit Hamdi nicht abgeschlossen war. Dabei wusste sie, dass diese Geschichte bereits seit zwei Jahren abgeschlossen und ihr Kampf vergeblich war. Wir saßen damals zusammen, kurz nachdem Hamdi wütend das Restaurant verlassen hatte. »Nicht einmal seine Rechnung hat er bezahlt«, klagte sie unter tränenerstickten Seufzern, während sie mit hoffnungsleeren Augen Richtung Ausgang blickte.

      Die zweite der beiden Frauen war Mrs Rose, eine Britin der alten Garde, Ende siebzig oder vielleicht sogar schon über achtzig. Ihr genaues Alter war schwer zu schätzen, was ebenso gut an ihrer Lebhaftigkeit liegen mochte wie an ihrer aristokratischen Eleganz, die an das Kleiderangebot für ältere Damen im Londoner Kaufhaus Harrods erinnerte. Mrs Rose – denn mit »Miss« wollte sie nicht angesprochen werden – bewohnte eine Suite in einem alten Kairoer Hotel, ich glaube, dem Lotus in der Talaat-Harb-Straße. Zwei- oder dreimal hatte ich sie in Simons Begleitung in der Bar des Windsor gesehen. Ich erinnere mich, dass sie sich jedes Mal mit einem Glas Martini und einer Bloody Mary begnügte und anschließend darauf bestand, die Rechnung für unseren Tisch zu übernehmen. Während unserer Unterhaltung sprach sie nie über die Gegenwart. Ihre Äußerungen drehten sich allein um die Vergangenheit, um das Kairo von einst, um die gute alte Zeit, wo Frauen mit schönen Frisuren und schicken Kleidern auf den Boulevards promenierten und man auch unter den Gästen der Clubs oder bei den legendären Konzerten von Sitt Um Kulthum noch Frauen hatte finden können. Bei keinem Gespräch versäumte sie es, ein paar alte, teilweise schon recht zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos hervorzukramen, um ihre Gesprächspartner von dem Glanz vergangener Zeiten zu überzeugen. Selbst die britischen Pfundnoten, mit denen sie in der Bar bezahlte, waren alte Geldscheine, die in Großbritannien nicht mehr gedruckt wurden. Mrs Rose war Anfang der Fünfzigerjahre, wenige Wochen vor der Julirevolution, mit ihrem Ehemann, my darling, auf Hochzeitsreise nach Ägypten gekommen. James war damals Mitte zwanzig gewesen und hatte als Bauingenieur gearbeitet, während sie, gerade achtzehn geworden, in der Firma ihres Vaters beschäftigt war, die sich auf den Export von Whisky spezialisiert hatte. Am zweiten Tag ihres Besuchs waren die beiden zu den Pyramiden gefahren. Die Straße dorthin war damals nur von Pflanzungen gesäumt. Bei ihrer Ankunft in Gizeh waren außer ihnen keine Touristen zugegen. Mrs Rose’ geliebter James jedoch, ein Spaßvogel, der sie gern ein wenig foppte, lief, kaum waren sie am Eingang zu den Pyramiden angekommen, von ihr fort, erklomm die kleine Anhöhe zur Sphinx und verschwand hinter dem Steinbild. Mrs Rose hörte ihn noch rufen, doch je näher sie der Anhöhe kam, desto ferner klang seine Stimme, bis sie schließlich ganz verstummte. Unglücklicherweise folgte ein heftiger Sandsturm. Doch was hatte das mit James’ Verschwinden zu tun? Mrs Rose wusste es nicht. »Suddenly my darling disappeared«, sagte sie nur. Ganz allein musste sie mit dem Buick, Baujahr 1950, den sie gemietet hatten, zurück ins Hotel fahren. Zunächst hatte sie noch gedacht, ihr geliebter James wolle sie nur wieder einmal necken und werde später wieder im Hotel auftauchen. Was er aber weder an jenem Tag noch an einem der folgenden, weder in jener Woche noch in einer der folgenden, weder in jenem Monat noch in einem der folgenden, weder in jenem Jahr noch in einem der folgenden tat. Seitdem saß sie in Kairo und harrte seiner Rückkehr. Trotz verschiedener Anträge hatte sie nie wieder geheiratet. Das Andenken an die Flitterwochen mit James durfte unter keinen Umständen getrübt werden. In der Hotelsuite, die sie vor einem halben Jahrhundert gemietet hatten, wartete sie auf seine Rückkehr. »James will come back, you know«, sagte sie, nachdem sie ihre Geschichte mit trauriger, doch verträumter Stimme zu Ende erzählt hatte.

      »Ja«, sagte ich tröstend, »eines Tages wird er wiederkommen.«

      Mit Ausnahme dieser beiden Frauen, die eine jung, die andere betagt, die junge unglücklich, die betagte zwar mit einem Fuß im Grab und mit dem anderen in ihrer eigenen Vergangenheit, aber doch voller Leben und stets mit einem Lächeln auf den Lippen, welches daher rühren mochte, dass sie mit der Erinnerung an eine erfüllte Liebe lebte – mit Ausnahme dieser beiden hatte ich Simon nie in Begleitung einer Frau gesehen. Selbst bei Kismets und meinen Besuchen bei ihm zu Hause war uns nichts aufgefallen, was auch nur auf die sporadischen Besuche einer Frau hingedeutet hätte. Für Kismet war dies gleich augenfällig, auch wenn sie es mir erst kurz vor unserer Trennung offenbarte, als sie mich doch tatsächlich fragte, welche Art Freundschaft mich mit Simon verband. Eine, ehrlich gesagt, böse Frage, doch ich fand darauf nur eine spöttische Antwort, schließlich betrachtete ich die Abwesenheit von Frauen in Simons Leben als seine Privatangelegenheit, die mich nichts anging.

      Ich weiß nicht mehr, wie oft ich vor dem Tisch saß oder ihn umkreiste, das Päckchen ansah und überlegte, was für eine Überraschung es wohl bergen mochte. Ich wusste, dass es Aufzeichnungen enthielt, aber ich wusste nicht, in welcher Beziehung Simon zu diesen Papieren stand, die, da war ich mir sicher, nicht von ihm stammten. Er hatte versucht, mich in seine Angelegenheiten hineinzuziehen. Auch wenn er wusste, dass dies gefährlich war. Oder gerade deswegen. In dem Versuch, die Angst, die mich gepackt hatte, zu zerstreuen, blieb ich vor dem Tisch stehen und fixierte das Päckchen nicht nur, sondern betastete es von Zeit zu Zeit, drückte mit den Fingern darauf, als könnte eine Berührung mir etwas über dessen Inhalt verraten. Solange das Päckchen verschlossen auf dem Tisch lag, konnte