Najem Wali

Soad und das Militär


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ihrer großen Überraschung aber blieben sie diesmal weder vor dem Solt stehen noch vor dem al-Mahrusa, einer berüchtigten Quelle für Pressenachrichten und bevorzugter Treffpunkt der Notabeln aus den Familien Yakan und al-Manistrali, noch vor der Petersburg-Bar gleich gegenüber. Nicht einmal vor den Cafés hielten sie wie sonst auf ihren Rundgängen an, dem Port Fuad etwa, wo die Gäste an Tischen auf dem Gehsteig saßen, oder dem Port Nur an der Ecke Bulaq- und Soliman-Pascha-Straße. Das war seltsam, ebenso seltsam wie die Tatsache, dass ihr Vater nicht wie sonst von der Mutter verlangt hatte, ihnen alte, abgerissene, aber saubere Kleider anzuziehen, um seine Kunden mitleidig zu stimmen. An diesem heißen Julitag hatte er die Mutter aufgefordert, ihre Töchter baden zu lassen, sie hübsch anzuziehen und mit ihrem besten Parfum zu besprühen. Sie sollten aussehen »wie Prinzessinnen«. Gawahir war wütend geworden und hatte ihn angefahren: »Meine Töchter sind Prinzessinnen!« Als sie schließlich das Haus verlassen hatten und nicht mehr unter der Aufsicht der Mutter standen, trieb ihr Vater sie unaufhörlich an. Warum er heute so nervös war, wusste Soad nicht, und genauso wenig wusste sie, warum er solchen Wert auf hübsche Kleidung gelegt hatte.

      An diesem Tag, der für Soads künftiges Leben bestimmend sein sollte, ahnte sie nichts von dem, was sie und ihre Schwestern erwartete, als sie das große Gebäude an der Corniche in Zamalek, gleich in der Nähe des alten Ankerplatzes, erreichten. Obwohl sie schon fast neun Jahre alt war, konnte sie weder lesen noch schreiben. Hätte sie eine reguläre Schule besucht oder wäre ihre Ausbildung nicht allein ihrer Mutter überlassen gewesen, hätte sie das Schild vor dem Gebäude lesen können, auf dem in breiten Lettern geschrieben stand: »Offiziersclub der Streitkräfte«. So jedoch war es für sie nur ein Gebäude, vor dessen Eingang scharenweise Militär stand. Anfangs hatte sie Angst verspürt, doch ihr Vater zog sie mit sich. Sie hörte, wie er den bis an die Zähne bewaffneten Soldaten und Wachtposten, die eine Eintrittserlaubnis verlangten, erklärte: »Sagen Sie seiner Exzellenz, dem Pascha, ich bin der kurdische Kalligraf!«, als seien alle von seinem Kommen unterrichtet. Kaum waren sie in einen großen Saal getreten, erblickten sie mehrere Offiziere, die Weingläser in der Hand hielten und dort standen, als hätten sie nur auf sie gewartet. Die Mädchen erhielten viele Komplimente, so mancher erlaubte sich sogar, ihnen über den Kopf zu streichen. Plötzlich sah Soad einen Offizier im Alter ihres Vaters, also gut Mitte dreißig, auf diesen zugehen und ihm die Hand reichen. Ihr schien, als würden die beiden einander gut kennen.

      Captain Samah zeigte keinerlei Interesse an den drei Mädchen, er sah sie kühl und distanziert an, selbst sein kleines Lächeln wirkte gezwungen. »Alles in Ordnung?«, fragte er den Vater, und ohne dessen Antwort abzuwarten, setzte er sich eilig in Bewegung und forderte ihn und seine Töchter auf, ihm zu folgen. Sie gingen durch einen langen Flur, eine Art Tunnel beinahe, und je weiter sie sich vom großen Saal entfernten, desto stiller wurde es. Schließlich gelangten sie ganz am Ende des Gebäudes zu einem kleinen Raum, dessen Tür offenstand. Kaum waren sie eingetreten, erblickte Soad einen jungen Offizier, den Captain Samah fragte: »Ist alles bereit, Scharif?«, woraufhin dieser knapp und gehorsam antwortete: »Ja, Captain, alles bereit.«

      Soad verstand nicht, wovon die beiden sprachen, sah aber in ihrer kindlichen Neugier den Vorgängen zu, als wäre sie beim Versteckspiel mit ihren Schwestern auf den Straßen in Bulaq.

      Was auch immer Soad in ihrem Leben vergessen sollte, die Zeit, die sie in jenem kleinen Raum verbrachte, blieb ihr in Erinnerung. Noch Jahre später hatte sie die Tonbandgeräte, die hier bereitstanden, ebenso vor Augen wie jenen seltsamen Moment, wo sich ihr Blick mit dem des jungen Leutnants kreuzte. Sie sah ihn an und er sie. Das Lächeln, mit dem sie das seine beantwortete, war nichts weiter als der Versuch, sich von ihrer Verlegenheit und dem Gefühl zu befreien, seine Gegenwart löse etwas Ungutes bei ihr aus.

      Leutnant Scharif war ein ansehnlicher Mann. Seine Uniform, sein kurzes, gepflegtes schwarzes Haar ließen ihn ebenso elegant erscheinen wie die vielen Herren in den Bars und Cafés von Bulaq. Er zeigte sich freundlich, wenn er mit Soad sprach, abgesehen von den kurzen Momenten, in denen sich sein Gesicht verdüsterte, als fühle er sich bedroht. Dann lag unvermittelt etwas Lauerndes, Kaltes in seinen Augen, das Soad erschauern ließ. Es war, als hätte sie intuitiv wahrgenommen, was geschehen würde, wäre er länger als eine Viertelstunde mit ihr allein im Raum gewesen. Sie bemerkte, dass er schwitzte und beim Sprechen schwer atmete. Mehrmals bat er sie, die Stücke, die er von ihr aufnahm, zu wiederholen. Sie wusste nicht, ob er vergessen hatte, das Aufnahmegerät einzuschalten, oder ob er es mit Absicht nicht getan hatte. Anders als bei ihr machte er von ihren Schwestern nur kurze Aufnahmen, von der Ältesten vielleicht zwei, bestenfalls drei Minuten, bevor er sie bat, den Raum zu verlassen, von der kleinen Sabah gar nur eine knappe Minute. Dann schickte er auch sie und ihren Vater hinaus.

      Soad bekam Angst, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Sie schöpfte Mut aus der Tatsache, dass ihr Vater und Captain Samah gleich hinter der Tür auf sie warteten. Vor allem die Anwesenheit von Captain Samah beruhigte sie.

      Trotz ihres jungen Alters und obwohl sie sich mit militärischen Hierarchien nicht im Geringsten auskannte, war Soad klar, dass Scharif während jenes Tages wie auch während der folgenden, regelmäßigen Treffen nichts anderes tat, als die Befehle seines Vorgesetzten auszuführen. Selbst als Captain Samah zu Scharif gesagt hatte: »Starten Sie die Aufnahme!«, war dies im Tonfall eines Befehls geschehen. Und er hatte nicht ohne drohenden Unterton hinzugefügt: »Machen Sie uns keine Schande!«

      So hatten die Militärs mit der Aufnahme jenes Liedes begonnen, das man später die Hymne der Revolution nennen sollte, der Revolution vom 23. Juli 1952: Gott erhalte deine Armee, mein geliebtes Ägypten!

      Den Anfang dieses Liedes sang Soads ältere Schwester, während sie selbst einen Vers mehrmals wiederholte, der sich zu einer Art persönlichem Fluch entwickeln und später wie ein Albtraum auf ihr lasten sollte: Die Armee ist es, die uns schützt, mein geliebtes Ägypten.

      Das neunjährige Mädchen aber, das sie war und das später als »Goldkind« und »Zuckerpüppchen« und noch sehr viel später als »die Cinderella« bekannt werden sollte, ahnte davon zu jenem Zeitpunkt noch nichts.

      »Das war’s!«, freute sich der Vater, als er mit seinen Töchtern aus dem Gebäude des Offiziersclubs wieder zurück in die Tageshitze trat. »Von nun an wird nicht mehr in den Straßen und Bars gesungen. Ab morgen wird alles anders!«

      Und er wusste nicht, wie recht er damit haben sollte.

      3

      LANGSAM ZOG SICH DER TAG DAHIN. Anfangs wusste ich nicht, was ich tun sollte. Als ich das erste Heft ausgelesen hatte, lag die Abflugzeit meines Fluges gute zwei Stunden zurück. Ja, ich hatte Simon angelogen, hatte ihm erzählt, mein Flug ginge nach Mitternacht. Aber ich denke, er wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagte, schließlich war er über all meine Schritte in der Stadt informiert, warum also nicht auch über meine Abflugzeit? Gut möglich sogar, dass er sich heimlich amüsiert hatte, da er wusste, dass ich nur zu meinem Schutz log. Ein Mensch mit meiner Neugierde würde sich eine solche Verabredung auf keinen Fall entgehen lassen. Es wird ihm nicht schwergefallen sein, meine Gedanken zu lesen. Das Auge ist verräterisch, und er musste mir in die Augen geblickt haben.

      Stundenlang war ich durch die Stadt gezogen, noch immer unentschlossen, ob ich wirklich zum vereinbarten Treffpunkt gehen sollte, oder, falls ich doch entschlossen gewesen sein sollte, so war ich vielleicht nicht wirklich sicher, ob diese Entscheidung richtig war. Ich weiß es nicht mehr, angesichts einer solchen Situation ist es nicht leicht, sich an die genaue zeitliche Abfolge der Dinge zu erinnern. Was nicht nur für die Straßen, Viertel, Stadtteile, Gassen, Läden und Cafés gilt, an denen ich nach der Lektüre des ersten Heftes und vor dem Treffen mit Simon im Café El Horryia vorbeigegangen war, oder in denen ich mich für eine gewisse Zeit niedergelassen hatte, nein, ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich meinen Koffer schon gepackt hatte, als ich das Päckchen öffnete, oder erst damit begann, nachdem ich von meinem Rundgang zurückgekehrt war. Woran ich mich erinnere, ist allein die Tatsache, dass ich keinerlei Ziel vor Augen hatte. Sollte ich das zweite Heft aufschlagen und weiterlesen, oder es lieber lassen und mich mit dem ersten zufriedengeben? Ich fühlte mich wie gelähmt.

      Der Koffer, das weiß ich noch, lag aufgeklappt