Najem Wali

Soad und das Militär


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wenn ich es einmal geöffnet hatte? Bedeutete dies nicht, dass ich zum Zeugen einer Geschichte geworden wäre, bevor ich sie überhaupt kannte?

      Tag für Tag treffen wir auf zahlreiche Menschen, sei es im Haus, in dem wir wohnen, auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen oder Spazierengehen, im Büro, beim Arzt oder auch in der Schlange vor einem Kino oder Theater, und sicher hat jeder Einzelne von ihnen seine eigene, besondere Geschichte zu erzählen. Man bräuchte den Menschen nur ein Ohr zu leihen, um Erzählungen zu vernehmen, auf die man nie gekommen wäre. Ungeachtet dessen, wie stark, wie wichtig oder berührend diese Geschichten sein mögen, beginnen die Leute sie mitzuteilen, sobald man ihnen zuhört. Allerdings verblassen sie dann meist auch wieder genauso schnell, wie sie vernommen wurden, nur selten bleibt von ihnen etwas in der Erinnerung lebendig. Das Ohr, das sie gehört hat, empfängt eine weitere, andere, neue Geschichte, die die Spuren der alten löscht. Anders aber verhält es sich mit jenen raren Erzählungen, die uns aufgebürdet werden, wenn jemand, den wir kennen, auf uns zukommt und uns bittet, seine Geschichte nicht nur anzuhören, sondern an ihr teilzuhaben.

      Wie sehr ich doch an jenen drei Tagen versuchte, das Päckchen, zumindest zeitweise, zu ignorieren! Ich ließ es auf dem Tisch liegen, damit es mir so vertraut würde wie die übrige Einrichtung des Zimmers. Ich legte es nicht an einen geheimen Ort, wo meine Hände unvermutet darauf hätten stoßen können und ich mich folglich mit ihm hätte beschäftigen müssen. Wer verborgen sein will, darf sich nicht verbergen, das weiß man gut. Dann aber war da noch eine andere Erkenntnis: Dieses Päckchen bewirkte anscheinend, dass ich unruhig schlief, früher als sonst aufstand, zeitiger frühstückte und – ganz gegen meine Gewohnheit bei anderen Reisen und Hotelaufenthalten – nicht erst eine halbe Stunde vor Ende der Frühstückszeit aus dem Bett kam. Um das Päckchen also zeitweise zu vergessen, vermied ich es, im Zimmer zu bleiben. Ansonsten starrte ich das Päckchen ständig an, und ich fragte mich, ob ich dies eher mit dem Blick eines Arztes tat, der seinen Patienten in Augenschein nimmt, oder mit dem eines Spezialisten für die Räumung von Kampfmitteln. Zugleich war ich mir der Verantwortung bewusst, die Simon mir aufgebürdet hatte.

      Ich war also viel in Kairo unterwegs und besuchte Viertel und Cafés, in denen ich nie zuvor gewesen war. So frei umherzustreifen erlaubte mir, Kairo im Abglanz seines revolutionären Frühlings zu sehen. In den Straßen hingen Transparente mit Lobpreisungen des Militärs und immer wieder auch große Porträts von dessen Führer mit Sonnenbrille, auf denen er dazu ermuntert wurde, sich doch bei den nächsten Wahlen um die Präsidentschaft zu bewerben. Im Stadtzentrum, vor allem in der Gegend um den Maidan Tahrir, um das Ägyptische Museum und die Garden City, wo sich neben der amerikanischen Botschaft auch die Amerikanische Universität befindet, drängten sich Militärkolonnen und Polizeikräfte der Inneren Sicherheit.

      Simon wusste um meine Neugier. Bis jetzt hatte ich niemanden enttäuscht, der mir seine Geschichte anvertrauen wollte. Warum sollte ich da ihn im Stich lassen? Uns verband eine Freundschaft, die ich als sehr besonders empfand, und dies verlieh mir die Gewissheit, dass er mit seinen Bemühungen, mich auf die Seite jener Frau zu ziehen, die ihm dieses Päckchen überlassen hatte, Erfolg haben werde.

      Nun gut, nachdem ich das Päckchen drei Tage lang auf dem Tisch im Zimmer meines Hotels hatte liegenlassen, war es zum Mittelpunkt meines Lebens geworden. Ich verpasste meinen Abreisetermin und öffnete es.

      2

      ERSTES HEFT

       Verlorene Kindheit

      ANFANGS GEFIEL ES GAWAHIR GAR NICHT, ihre Töchter mit dem Vater ausgehen zu lassen. Das war nichts Neues, denn sie wusste bereits seit ihrer Scheidung, dass das einzige Mittel, ihren Mann zu bestrafen, darin bestand, irgendwie zu verhindern, dass er seine Töchter sah. Weil jedoch die drei Mädchen selbst, vor allem Soad, die mittlere, ihre Mutter so sehr bedrängten, gab diese schließlich nach und bat ihren Ex-Mann nur, sich diesmal vor den Militärfahrzeugen in Acht zu nehmen: »Die Leute sagen, sie haben die Straßen besetzt.« Mit dieser Warnung lag Gawahir nicht falsch. Zum vielleicht ersten Mal versuchte sie ihre Töchter nicht daran zu hindern, auszugehen, weil sie sich an deren Vater rächen wollte, sondern weil sie sich tatsächlich Sorgen um ihr Wohlergehen machte.

      Es war ein heißer Julitag. Seit die Einwohner Kairos drei Tage zuvor von einer ungewöhnlichen Bewegung in den Straßen erwacht waren, hörten sie im Radio nur noch Militärmärsche. Man sprach von einem historischen Tag, von der Revolution der Freien Offiziere im Namen des Volkes. Die Stadtmitte war noch voller Armeefahrzeuge, erzählten sich die Menschen, die von dort kamen, weil sie ihre Arbeitsplätze verlassen hatten, um zu Hause Schutz zu suchen. Nie zuvor hatten sie so viel Militär in den Straßen gesehen. Selbst die Gesichter der Älteren, die noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, wirkten verängstigt. Niemand wusste, wer für und wer gegen die Revolution war. Was das Militär betraf, so war klar, dass seine Aufgabe darin bestand, zu kämpfen. Aber bewaffnete Zivilisten? An welcher Front sie standen, vermochte niemand zu sagen. Zwar versicherten sie den Menschen, ihnen würde nichts geschehen, sie sollten nur umsichtig und ruhig bleiben, doch der Anblick, den die Stadt bot, war beängstigend.

      Anders sah es in Bulaq aus. Im Viertel war es völlig ruhig, als stünde es in keinerlei Beziehung zum Rest der Stadt, als sei es seit seiner Entstehung am Ostufer des Nils ein von ihr losgelöster Hafen. Der Verkehr lief normal, die Autos fuhren wie gewohnt durch die Straßen, die Passagierboote und Lastkähne pflügten durch den Fluss wie an allen anderen Tagen auch. Selbst am Ufer von Bulaq hatte es in den letzten zweiundsiebzig Stunden keine ungewöhnlichen Bewegungen gegeben. Tags zuvor erst waren die Mädchen in der Abenddämmerung mit ihrer Mutter und deren neuem Ehemann, dem Schulrat Abd al-Mazhar Hafiz, spazieren gegangen. Wie stets zur Zeit des Sonnenuntergangs war das Nilufer zur Promenade von Liebespaaren und Familien geworden, die den Wind des kühler werdenden Tages genossen. Auch am dritten Tag nach der Revolution hatte man wie sonst gearbeitet. Sogar die einundzwanzig Salutschüsse der militärischen Artillerie hatte man vernommen. Es hieß, ein neues Zeitalter habe begonnen, der König sei abgesetzt und außer Landes gebracht worden. Im Land herrsche eine neue Regierung und mir ihr neue Gesetze. Man sprach von einer Republik, von einer geplanten Landreform, von der Abschaffung des Kolonialismus, von der Errichtung einer starken Armee, von sozialer Gerechtigkeit und von einem gesunden demokratischen Leben.

      Die Nachrichten, die sich in diesen Tagen überschlugen, hatten Bulaq offenbar noch nicht erreicht. Hier lag der aus den Gassen dringende Rauch der Haschischzigaretten in der Luft, hier hatten die Eiscafés ihre Türen geöffnet, was auch der Grund sein mochte, warum die drei Mädchen so versessen darauf waren, mit dem Vater auszugehen. Seit sie nicht mehr mit ihm zusammenlebten, hatte ihre Mutter ihnen immer wieder eingebläut: »Wenn euer Vater, dieser Verräter, kommt, geht ihr nicht mit ihm mit!«

      Letztendlich jedoch hatte sie ihre Töchter nicht überzeugen können, und zwar nicht, weil der Vater ihnen stets ein Eis versprach, sondern weil die drei Mädchen sich jeden Abend vor dem Einschlafen geschworen hatten, selbst zu entscheiden, ob sie mit dem Vater mitgingen oder nicht. Der Vorschlag dazu stammte von Kauthar, der Ältesten, und Soad hatte ihm gleich zugestimmt. Nur auf Sabah mussten sie intensiver einwirken, denn sie war noch zu klein, um solche Dinge zu verstehen, und außerdem ziemlich faul. Die Mädchen gingen davon aus, dass sie auch diesmal an vielen Kneipen und Bars auf ihrem Weg Halt machen würden, bei der San James Bar etwa oder dem Solt, wo ihr Vater, das wussten die Mädchen, besonders gern länger verweilte. Er legte dort immer eine Pause ein, holte sein altes Akkordeon aus dem Kasten, begann zu spielen und forderte seine Töchter auf zu singen. Das Solt war sowohl Restaurant und Konditorei als auch Ausschank. Deshalb musizierte der Vater dort am liebsten. Er selbst bekam ein alkoholisches Getränk – an den Tagen, an denen der Inhaber gut gelaunt war, auch zwei – und die Mädchen so viele Süßigkeiten, wie sie wollten. Doch zu ihrer Überraschung ging der Vater in dieser Julihitze einfach daran vorbei. Soad dachte zuerst, es sei ja noch mitten am Tag und der Vater mache hier lieber erst am Abend Halt, zwischen zehn und ein Uhr nachts, wenn die Bar zum Treffpunkt eines ganz speziellen Typs von Männern wurde. Der Vater bezeichnete diese Männer als große Literaten, Dichter, Intellektuelle und Journalisten. Am deutlichsten erinnerte sich Soad an einen freundlichen Glatzkopf mit Brille. Er hieß Si Chamis. Später sollte sie erfahren, dass er tatsächlich ein großer Poet war.