Najem Wali

Soad und das Militär


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gerade aus dem Bad gekommen und hatte beschlossen, das Ganze zusammenzupacken. Warum sollte ich nicht ins nahegelegene Reisebüro gehen und mich nach dem nächsten Flug erkundigen? In einem wenigstens hatte ich Simon nicht angelogen: Die Flüge der meisten europäischen Linien gingen in den späten Abendstunden. Es lag an mir. Es war ausschließlich meine Entscheidung. Ich konnte eine Fluggesellschaft anrufen, und am nächsten oder spätestens übernächsten Tag abreisen. Nichts zwang mich, zu unserer Verabredung zu erscheinen.

      Rasch stopfte ich Kleider und Badartikel in den Koffer, zog Armbanduhr und Schuhe an, sah mich im Zimmer um, ob ich etwas vergessen hatte, und erst als ich im Begriff war, den Raum endgültig zu verlassen und die Tür hinter mir zuzuziehen, ich war schon mit einem Fuß im Flur, fiel mir das Päckchen wieder ein. Mein Gott, ich hatte es nicht in den Koffer gepackt! Ich hatte es geöffnet auf dem Tisch liegen lassen, und das erste Heft, das ich eben gelesen hatte, lag daneben. Ich sah auf die Uhr, mir blieb noch Zeit. Ich musste mir für das Päckchen einen Plan zurechtlegen.

      Ich legte das erste Heft wieder obenauf und steckte den ganzen Stoß in eine Stofftasche, die ich immer im Seitenfach meines Koffers aufbewahrte und normalerweise zum Einkaufen benutzte. Ich beschloss, den Koffer im Zimmer zu lassen und ging hinaus. Ob nun zu meinem Unheil oder Simons Glück – kaum, dass der Rezeptionist des Hotels mich die Treppe herunterkommen sah, lächelte er mich an und sagte: »Guten Morgen, Doktor! Wusste ich’s doch, dass der Aufenthalt in Kairo Ihnen gefallen hat und Sie noch zwei, drei Tage länger bei uns bleiben!« Er klang von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt, und ich weiß nicht, ob es an diesem Umstand lag oder eher an meiner dem Bündel geschuldeten Nervosität, dass ich ihm sofort bestätigend zunickte und lächelnd bei ihm den Eindruck erweckte, seinen Worten beizupflichten, bevor ich schließlich wortlos das Hotel verließ.

      Es war ein warmer, strahlender Morgen, die Sonne schien, kein Wind war zu spüren, die Luft war allein vom Gezwitscher der Vögel erfüllt, die mit Tagesanbruch aktiv geworden waren und auf der Suche nach Nahrung immer wieder von einem Baum zum nächsten flogen. Dieser besondere Februartag war wie für mich geschaffen, er kam mir regelrecht vertraut vor. Allerdings hegte ich nicht den geringsten Zweifel, dass sich wegen des Bündels jemand an meine Fersen heften würde. Drei Tage lang hatte diese Vorstellung mich verfolgt, und heute, nachdem ich das erste Heft gelesen hatte, war sie noch intensiver geworden.

      Ich dachte daran, mir die erstbeste Telefonzelle zu suchen, bei der Auskunft die Nummer des Hotels Layali al-Qahira zu erfragen, um Simon zu kontaktieren und ihm zu erklären, dass ich abreisen würde, ohne die Hefte gelesen zu haben, und dass es besser wäre, wenn wir uns jetzt sofort träfen, damit er sie von mir wieder in Empfang nehmen könnte. Mein Flug, hätte ich ihm sagen wollen, gehe am Abend, ich hätte nicht mehr genügend Zeit, sie ihm vorbeizubringen. Und ich tat es auch. Es steht in den Sternen geschrieben, warum der Angestellte des Layali al-Qahira, der meinen Anruf entgegennahm, nicht verstand, was ich von ihm wollte. »Wen?«, stammelte er. »Si …, wer? Si … Mon? Amri … Kana, wie bitte?«, und bevor ich meinen Wunsch wiederholen konnte, hatte er wieder aufgelegt. Abgesehen von einem kaum wahrnehmbaren kurzen Flüstern in der Leitung kam nichts mehr. Ich hängte ein. Die Stofftasche hatte ich in der Hand, die Straße lag offen vor mir, ich verließ die Telefonzelle, rechts und links zogen Menschen an mir vorüber, die Geschäftigkeit des Tages hatte begonnen, alles bewegte sich, wie es schien, nach einem festen Plan, selbst die Vögel flogen von einer bestimmten Stelle zu einer anderen, nur ich stand da: ohne jegliches Ziel.

      An jenem Morgen, ich habe es erwähnt, machte ich mich zu einem langen Fußmarsch auf, einem Pilger ähnlich, der die Welt durchwandert. Ich glaube, dieses ziellose Umherstreifen verschaffte mir Zeit, darüber nachzudenken, was ich im Ernstfall tun würde. Falls es so weit kommen sollte, dass sie mich aufgriffen, hatte ich mir im Kopf tatsächlich einen Satz zurechtgelegt: »Seht Ihr denn nicht, dass ich unterwegs bin, im Freien, und mich nicht im Hotel, in einem geschlossenen Raum aufhalte, wo ich verbotenes Wissen lesen könnte? Ja, sicher, die Hefte, ich habe sie bei mir, hier, in dieser Tasche, aber bislang habe ich mich nicht festgelegt, was ich unternehmen soll. Ich weiß, dass es in den Heften um eine ganz besondere Frau geht, eine berühmte Schauspielerin und Sängerin. Ich habe allerdings bis jetzt nur das erste Heft gelesen. Das ist kein Verbrechen, denke ich!« Merkwürdig, sagte ich zu mir selbst, wie komme ich denn darauf, mit der Lektüre des Heftes, dessen Verfasserin es vorgezogen hatte, in der dritten Person über sich zu berichten, ein Verbrechen begangen zu haben? War etwa auch sie, die Verfasserin, der Meinung, dass das, was sie enthüllen würde, ein Verbrechen sei? Und war sie deshalb darauf verfallen, in der dritten Person zu schreiben und die Perspektive eines auktorialen Erzählers einzunehmen? Wo in diesen Heften begann die Fiktion und wo die Wahrheit? Und wer entschied am Ende darüber, wie sie einzuordnen waren? Simon Syros? Ich selbst? Oder etwa der Soldat, der Polizist oder der Agent, der mich festnehmen würde?

      Die Tasche mit den Heften in der Hand, den Kopf voller Gedanken, lief und lief ich einfach vor mich hin. Bis zu unserer Verabredung am Abend war noch viel Zeit. Und nichts verpflichtete mich bislang, sie überhaupt wahrzunehmen. Überdies gab es auch keinen wirklichen Anlass, der mich zwang, mein Hotelzimmer zu meiden und durch die Straßen zu ziehen, von einem Ort zum nächsten zu marschieren und mich so zu verausgaben. Doch ich lief einfach weiter. Währenddessen fiel mir ein, dass irgendwer einmal einen Roman darüber geschrieben hat, wie er sich als junger Soldat fühlte, nachdem er verbotene Literatur gelesen hatte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Schriftsteller in Lima oder Bogotá, in Santiago oder Bagdad lebte, ich weiß nur, dass in der Erzählung sein Land mit einem Nachbarland in einen Krieg getreten war. All das ist meiner Meinung nach aber auch unwichtig. Worauf es ankommt: Mir war im Gedächtnis geblieben, wie in etwa er die Lektüre eines verbotenen Buches in einem Land unter autokratischer Herrschaft, in einer Diktatur, beschrieb:

      Nachdem ein Freund dafür gebürgt hatte, dass ich Stillschweigen über das Ganze wahren würde, erwarb ich in einer Druckerei im Stadtzentrum eine Kopie von dem Roman dieses Autors und ging damit geradewegs in mein Zimmer in dem alten Hotel am Fluss. Mit der Vorsicht eines Heroinschmugglers in einem Geheimdienststaat holte ich dort das Buch heraus, schloss die Zimmertür ab, und das Zittern meiner Hände war noch für die Spatzen auf dem Hoteldach vernehmbar … Je weiter ich in die unverhüllte Darstellung des Lebens und der konkreten Umstände im Inneren jenes Landes vordrang, desto stärker bebten sie … Die Romanfiguren waren unserem Leben, meiner Angst in dem finsteren Zimmer dieses elenden Hotels so ähnlich, dass ich begann, mich vor seinem Betreiber zu fürchten. Wenn es an der Tür klopfte, versteckte ich das Buch sofort unter dem Kopfkissen. Die Menschen im Roman standen am Rande des Lebens, aber der Erzähler war bestrebt, sie mitten hinein zu versetzen, um einem das Gefühl zu vermitteln, man befinde sich ebenfalls darin … Es war bereits das zweite Mal, dass ich das Gefühl hatte, eine Figur in einem Roman zu sein, den ich gerade las. Zum ersten Mal hatte ich dies bei dem Roman 25 Uhr erlebt, und nun bei diesem hier … Eine Furcht, die durch meine Lektüre und meine Eile, das Buch auszulesen und mich von ihm freizumachen, noch bedrängender wurde. Doch das Gesicht des Autors sollte unter den Lidern meiner Erinnerungen verborgen bleiben. Dieselben Gefühle, die den Protagonisten des Romans beherrschten, beherrschten auch mich. Bei ihm handelte es sich ebenfalls um einen zögerlichen Menschen … – Ich habe den Roman ausgelesen und werde anfangen, ihn zu zerreißen, nachdem ich ihn mir ins Herz und Gedächtnis eingeprägt habe. Ich werde ihn zerreißen, in eine Tüte sammeln und im Morgengrauen zu dem Schriftsteller hinuntergehen … Dasselbe passierte mir mit seinem zweiten Roman. Vier Jahre lagen zwischen dem ersten Roman, den ich von jenem Schriftsteller las, und dem zweiten. Dieser zeitliche Abstand reichte, die Furcht zu zerstreuen, in die er mich in jener kalten Nacht im Hotel am Fluss versetzt hatte … Jetzt bin ich zu Hause, es herrscht eine wundervolle Sommernacht, die Sterne senden ihr Licht hinab auf die Gesichter meiner Kinder, und ich erwache voller Glück, eine Kopie des zweiten Romans dieses Autors in meinem Besitz zu haben. Aber bei sämtlichen Lesern kopierter Bücher hat sich herumgesprochen, dass alles, was dieser Autor schreibt, hier verboten ist, und sollte es sich um romantische Gedichte handeln.

      Mehrmals versuchte ich erfolglos zu imitieren, was »unser Mann in der Hauptstadt der Geheimdienste« getan hatte: die Hefte zu zerreißen, das Bündel im Ganzen oder in Form von Papierschnipseln in den Nil zu werfen, damit die Wellen es verschlangen. Falls mich dann jemand dazu befragt hätte, hätte ich dasselbe zur Antwort gegeben wie der indische Priester