Najem Wali

Soad und das Militär


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er und vergewisserte sich nach allen Seiten blickend, dass uns niemand im Café beobachtete. »Weißt du noch, wie ich dir damals von meiner Arbeit an dem Wörterbuch erzählt habe?« Ihm war natürlich klar, dass ich mich noch daran erinnerte. Das Wörterbuchprojekt war seine Lebensaufgabe, sagte er nun. Früher hatte ich gar nicht nachvollziehen können, wie die Arbeit an einem Wörterbuch zu einer solchen Leidenschaft hatte werden können. Oft hatte er mir zu verstehen gegeben, dass dieses Wörterbuch, an dem er gearbeitet hatte und vielleicht noch immer arbeitete oder das er aufgrund der Dinge, die ihm in den letzten Jahren widerfahren waren, liegengelassen hatte, sich wesentlich von allen anderen Wörterbüchern unterschied. »Leider habe ich dir die Hintergründe damals nicht genauer erläutert, ich habe dummerweise nur ganz allgemein davon gesprochen. Vielleicht hatte ich Angst, du klaust mir die Idee, wer weiß!«, sagte er, seine Bierflasche noch immer in der Hand. Erneut stießen wir an.

      »Cheers«, sagte ich, und er begann zu erzählen.

      Sein Bruder Gerry, der vor Jahren Rabbiner geworden war, und zuvor als Offizier bei den Marines gedient hatte, war zehn Jahre älter als Simon. Doch trotz Simons Jugend, er war damals vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, war ihm etwas an der Art und Weise aufgefallen, wie sein Bruder redete, wenn er auf Urlaub nach Hause kam. Doch wenn er seinen Bruder nach diesen Ausdrücken fragte, die ihm unklar und neu erschienen, lachte dieser nur und sagte, so sprächen sie eben bei den Marines.

      Simon wusste nicht mehr, wann er begonnen hatte, sich für die Frage zu interessieren, ob denn alle Soldaten weltweit solch eine eigene Sprache besäßen. Doch er erinnerte sich, dass ihn diese Frage lange umgetrieben hatte. Manchmal hatte er nächtelang nicht schlafen können. Als er sich ein kleines Heft anschaffte, um hier und da ein Wort zu notieren, das er von seinem Bruder aufgeschnappt hatte, war ihm noch nicht bewusst, dass sein Wortschatz mit der Zeit immer weiter anwachsen und dieses kleine Heft von zahlreichen größeren abgelöst werden sollte. Sein Bruder hatte sich nicht geizig gezeigt und ihn mit sämtlichen Wörtern versorgt, die ihm geläufig waren. Und als Simon schließlich auf die Universität kam, sollte er Linguistik studieren und sich auf die Sprache der Soldaten spezialisieren.

      So hatte das Ganze seinen Anfang genommen, und im Laufe der Zeit hatte er begonnen, Abhandlungen über die Soldatensprache zu schreiben: Flüche in der Soldatensprache, Erotik in der Soldatensprache, Humor in der Soldatensprache und andere Titel mehr. Sein Professor hatte es anfangs als eher befremdlich empfunden, dass er sich allein mit solchen Themen beschäftigte, und darin nur eine vorübergehende Liebhaberei erblickt, wie sie in den ersten Universitätsjahren bei Studenten zuweilen vorkommt. Simon allerdings hatte unbeirrt an seinem Lieblingsthema weitergeforscht, war ganz darin aufgegangen, weshalb ihn sein Professor schließlich zu einer Unterredung in sein Büro bat. Er war ein kritischer Geist, wie die meisten seiner Professorenkollegen an der University of Michigan in Ann Arbor, die der Generation der Studentenbewegung der Sechzigerjahre angehört hatten und für jedes neue Thema ein offenes Ohr zeigten. Zwischen den beiden hatte sich ein tiefgreifendes Gespräch entsponnen. Der Professor hatte Simon nach seinen Quellen gefragt und den Grund wissen wollen, warum ihn die Soldatensprache so beschäftige. Und Simon hatte ihm nicht nur alles ausführlich erläutert, sondern sich darüber hinaus unbeschreiblich glücklich gefühlt, den Professor auf sein Thema aufmerksam gemacht zu haben. »Sie glauben also, die Soldaten haben eine eigene Sprache?«, hatte ihn der Professor gefragt. »Ja, das ist meine Überzeugung. Und meine Forschungen bestätigen es«, lautete die Antwort des jungen Studenten. Während des Gesprächs notierte sich der Professor immer mal wieder ein paar Wörter, die Simon erwähnt hatte, darunter vor allem jene, die er in seinen Studien zitierte. Bevor Simon schließlich nach einer mehr als zweistündigen Unterhaltung das Büro verließ, äußerte der Professor, dass ihn tatsächlich einige Wörter stutzig gemacht hätten, weil er sie nicht verstanden habe. Sie seien sicherlich Teil des Wortschatzes der Marines, weshalb es ihn sehr freue, wenn Simon sie ihm übersetzen würde. Und in diesem Moment war Simon blitzartig die Idee gekommen: ein Wörterbuch!

      Eine Soldatensprache, dachte er, muss es in der übrigen Welt gewiss auch geben, und wenn er verschiedene Sprachen studierte, könnte er ein wirklich umfassendes Wörterbuch zusammenstellen. Er erstellte eine Liste und einen Arbeitsplan, um jene Sprachen zu lernen, die in den Konfliktregionen seiner Zeit gesprochen wurden.

      »Was meinst du?«, fragte er und sah mich an, als wolle er sich vergewissern, dass die Überraschung, die er mir bereiten wollte, ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. »Heutzutage ist es schwierig, eine einzige Region auszumachen, die konfliktreicher ist als die übrigen, denn an vielen Orten der Welt herrscht Krieg, ob nun im Kleinen oder im Großen.« Aber damals, Anfang, Mitte der Achtzigerjahre, welche Sprache habe da an erster Stelle gestanden? Nun? Doch wohl Arabisch, dann Hebräisch und in einem gewissen Sinne auch Farsi. – Und so hatte er sich parallel zur Linguistik auch noch für Nahoststudien eingeschrieben.

      Bei seiner Ankunft in Kairo war es Spätherbst. Seinen Abschluss in Linguistik und Nahoststudien hatte er in der Tasche. Vom ersten Studienjahr an war ihm klar, dass man, um eine Sprache zu beherrschen, auf Reisen gehen und sie an Ort und Stelle studieren muss. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, in Kairo seine Arabischkenntnisse zu vertiefen, sich mit den Ägyptern in ihrer Sprache zu unterhalten und von ihnen zu lernen, um sich anschließend der Herausgabe seines Wörterbuchs zu widmen. Für all dies hatte er höchstens ein Jahr eingeplant, und zwar nicht, weil das ihm zur Verfügung stehende Geld nicht länger gereicht hätte, sondern um sich auch mit jenen anderen Sprachen zu befassen, die er für sein Weltwörterbuch benötigte, wie etwa das Persische oder Hebräische. Zwar hatte er große Lust gehabt, in den Iran zu gehen, seine Hebräisch-Studien aber hatten sich von Kairo aus leichter weiterverfolgen lassen, schließlich grenzt Israel an Ägypten und war diesem nach dem Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten und der Unterzeichnung eines Friedensvertrags genau vier Jahre vor Simons Ankunft und infolge der anschließenden Grenzöffnung näher gerückt. Simon hatte sich nun leichter auf dem Landweg zwischen Tel Aviv und Kairo hin und her bewegen können und sich nicht mehr gezwungen gesehen, über Zypern nach Israel einzureisen. Während jenes Jahres, von dem er gedacht hatte, es werde sein einziges sein und er würde danach, gleich im Anschluss an die Fertigstellung seiner Studien, nach Michigan zurückkehren, tat er alles ihm erdenklich Mögliche, um bloß nicht den Verdacht zu erwecken, sich nicht allein aus literarischen Gründen mit der arabischen Sprache zu beschäftigen, sondern tatsächlich wegen seiner Arbeit an einem Wörterbuch, das mit dem Militär in Beziehung stand. Er musste also zunächst einmal Soldaten finden, sich mit ihnen unterhalten und sie, wenn auch indirekt, befragen. Damals hatte er zufällig vom Café El Horryia gelesen, und was er da gelesen hatte, hatte ihm den Weg zu seinem Ziel gewiesen.

      »Weißt du, dass dieses Café seit seiner Eröffnung 1936 der Lieblingstreffpunkt der Ausländer in Ägypten ist?«, fragte er mich und zog einen alten Zeitungsausschnitt aus der Tasche, den er aufbewahrt hatte. »Was für ein Zufall!«, dachte ich, als ich den Papierfetzen, den er mir unter die Nase hielt, in Augenschein nahm und überflog. Das Viertel Bab al-Louk war zu jener Zeit, als das Café eröffnete, nahezu unbewohnt. Es lag an einem Platz, den man damals noch Maidan al-Zuhur nannte, Platz der Blumen. Weil es so abgelegen lag, hatte mit Ausnahme einiger englischer Soldaten niemand den Weg dorthin gefunden. Zunächst brachte das Café seinen Besitzern auch nichts als gewaltige Verluste ein. Doch mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stockte Großbritannien seine Truppen in Kairo auf, die britischen Soldaten zeigten eine besondere Vorliebe für dieses Café, dessen zunehmende Beliebtheit unter den Briten dann auch Paschas, Polizisten, Soldaten und Künstler anzog. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass genau an der Stelle, wo sich heute das Café befindet, früher das Haus des berühmten ägyptischen Politikers Ahmad Urabi gestanden hat. Von hier aus war er mit seinen Unterstützern zum Abdin-Palast gegen den Khediven, den ägyptischen Herrscher, gezogen, um Freiheit für das Volk einzufordern. Nach dem Scheitern der Revolution, der Gefangennahme Urabis und seiner Verbannung auf die Insel Ceylon wurde auch sein Haus zerstört. An dessen Stelle errichtete man ein neues Gebäude in englischem Stil mit dem Café El Horryia im Erdgeschoss. Es gab also keinen besseren Vorwand als den der Erforschung der Geschichte dieses Cafés, um sich mit ehemaligen Militärführern zu treffen, die hier regelmäßig verkehrten. Eigenartige Ausdrücke und sprachliche Wendungen ließen sich mit ihrer Hilfe leicht belegen. Nur durfte Simon keinen Argwohn bei ihnen erwecken, wollte er nicht Gefahr laufen, als Spion verdächtigt