Najem Wali

Soad und das Militär


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hast du getan, mein Priester! Wie soll ich das wertvolle Juwel nur wiederfinden?«, warf der Priester auch das zweite Juwel ins Wasser und rief seinem Schüler zu: »Suche da, wo auch dieses liegt!« Doch nein, ich lief mit der Tasche umher, und das Bildnis dieser besonderen Frau und Verfasserin der Hefte unter meinen Lidern verlangte von mir, ihre Aufzeichnungen zurück ins Hotelzimmer zu bringen. Als hätte sie zu frieren begonnen, so wie ich. Nach dem stundenlangen Herumlaufen machte mir das Gefühl von Kälte zu schaffen. Ich glaube nicht, dass es einen Wetterumschwung gegeben hatte, verändert hatte sich wohl meine Körpertemperatur. So wie die Frau, fror auch ich. Die Angst, die damit einhergeht, eine Entscheidung treffen zu müssen, lässt unsere Körper des Winters noch heftiger frieren und im Sommer stärker schwitzen. Und es war noch Winter, damals, im Februar 2014. Es war zwar nicht so kalt wie sonst zu dieser Jahreszeit in Kairo, aber die Menschen liefen in Winterkleidung durch die Straßen, trugen hier und da sogar einen Mantel. Ich wusste, sie übertrieben. Fielen die Temperaturen auch nur ein wenig, zogen die Wohlhabenderen sich sofort ihre Kaschmirmäntel über, die sie auf ihren Reisen nach Europa erstanden hatten. Was mich betrifft, so hat sich, in den vielen Jahren, die ich nun schon in Europa lebte, das Verhältnis meines Körpers zur Außentemperatur gewandelt. Was die Menschen in Kairo für Kälte halten, ist für mich nur eine Übertreibung ihrerseits. Komisch, sagte ich mir, dem Wetter passt sich der Körper an, aber seine Reaktion auf autokratische Regime bleibt sich doch gleich, sein Verhältnis zur Geheimpolizei und zur Armee bleibt sich gleich, da gibt es keine Veränderung, keine Gewöhnung.

      Die Angst, eventuell der Polizei in die Hände zu fallen, die Furcht, das Bündel Hefte könne mich in etwas hineinziehen, für das ich nicht verantwortlich war, fühlte sich für mich gleichsam wie eine altbekannte ungeliebte Routine an. Jedes Mal, wenn dieses Gefühl in mir wach wurde, dachte ich daran, ins Hotel zurückzukehren. Und das Päckchen? Ja, was ist mit dem Päckchen?, überlegte ich. Ich musste eine Lösung finden. Das Militär verstand, sobald es selbst betroffen war, keinen Spaß! Von einer außergewöhnlichen Frau, von einem Wunderkind namens Soad, durfte in den Heften ohne Weiteres berichtet werden, selbst wenn die Hefte in der ersten Person abgefasst worden wären, also als persönliche Erinnerungen einer berühmten Sängerin und Schauspielerin, als die Memoiren einer Ausnahmekünstlerin, das hätte nichts und niemandem geschadet und wäre erlaubt gewesen – unter der Bedingung allerdings, dass das Wort Militär nicht auftauchte. Hätten die Hefte nur den Titel Soad getragen, hätte es gar kein Problem gegeben, ganz egal, was ihr Inhalt besagte, ganz egal, was für Geheimnisse enthüllt wurden. All dies wäre kein Vergehen oder Verbrechen gewesen. Doch ihr Titel lautete Soad und das Militär, und das, das war ein Verbrechen! Ein Verbrechen, für das das Gesetz Rechenschaft verlangte, ganz gleich, ob der Inhalt dieser Hefte nun von der Wahrheit diktiert war oder von der Fantasie. Wichtig allein war der Titel: Soad und das Militär!

      Statt also ins Hotel zu gehen, eine Option, die ich mir tatsächlich überlegt hatte, beschloss ich, das Gegenteil zu tun. Ich lief, und diesmal schnell, in Richtung des Soliman-Gawhar-Marktes im Stadtteil Dokki. Dort kannte ich noch von meinem ersten Aufenthalt in Kairo ein berühmtes Ful-Lokal. Es hatte damals zu den mir liebsten Freuden gehört, in diesem Lokal zum Frühstück einen Teller exzellent zubereitetes Ful zu mir zu nehmen, bei einem Glas Tee die mit Olivenöl, Essig, Zwiebeln, Tomaten und gehackter Minze angemachten dicken Bohnen zu genießen und mich auf einer kleinen Couch zu ein paar einfachen Leuten zu setzen, die ihrerseits ihr Ful verspeisten. Das ganze Volk hat man dort bei einem Gericht zur Seite, das in Ägypten bevorzugt als Frühstück eingenommen wird, in Kairo darüber hinaus aber als Speise gilt, die die Armen zu allen Tageszeiten sättigt. Solange der Tag in Kairo mit seiner Geschäftigkeit anhält, gibt es in dieser Stadt Ful und dazu »genau richtig«, das heißt auf den Punkt gesüßten Tee. All dies war, das wusste ich nun, das richtige Rezept für jenen Tag. Eine solche Mahlzeit inmitten der Menschen dieser Stadt sollte mich meine vom vielen Umherlaufen herrührende Erschöpfung, meine Sorge um die Hefte und meine Angst vor dem, was noch folgen mochte, vergessen lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe, doch als ich aufstand, um beim Inhaber des Lokals zu zahlen, war mein Körper von Glückseligkeit erfüllt. Der Mann trug eine Gallabiya und um den Kopf gewunden einen Schal. Er erinnerte mich an die Figur des »Muallim« in alten ägyptischen Filmen, eines im Viertel höchst respektierten Handwerksmeisters. »Kommt nicht in Frage, mein Herr«, sagte er zu mir, als ich zahlen wollte, »dieses Mal geht es auf uns!« Was für eine Gastfreundschaft, dachte ich mir, bedankte mich höflich bei dem Alten und drückte dem Jungen, der ihm zur Hand ging, ein Bakschisch in die Hand.

      Ich hatte mich bereits gut hundert Meter, möglicherweise auch etwas weniger oder bereits viel weiter vom Lokal entfernt, als ich plötzlich die Stimme dieses Jungen vernahm. Er kam hinter mir hergelaufen und winkte mir lächelnd mit etwas, das er in den Händen hielt. »Mein Herr, sehr geehrter Herr!«, rief er mich mit lauter Stimme in einem Ton voller Glückseligkeit darüber, etwas Wertvolles gefunden zu haben, das er seinem Eigentümer zurückgeben konnte. »Sie haben Ihre Tasche vergessen!«

      Anfangs begriff ich nicht, um was für eine Tasche es sich handeln sollte, dann schoss es mir blitzartig in den Kopf und ich dankte dem Jungen herzlich, gab ihm noch einmal ein Bakschisch und setzte meinen Weg fort.

      Mein Gott, dachte ich, wie gut, dass dieser Junge nichts davon ahnte, dass eine solche Tasche zu tragen als Verbrechen gilt!

      Als ich schließlich wieder mein Hotel betrat, saß an der Rezeption noch immer derselbe Mann wie am Morgen. »Sie bereiten uns eine große Freude, mein Herr! Offenbar möchte der Herr noch länger bei uns in Ägypten verweilen«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen und fragte höflich nach: »Ist es nicht so?«

      Ich nickte erneut und stieg die Treppenstufen zu meinem Zimmer hinauf, ohne ihm zu sagen, für wie viele Tage.

      Im Zimmer stellte ich die Tasche auf den Tisch, ging ins Bad, wusch mir das Gesicht und sah mich im Spiegel an. Dann verließ ich das Bad wieder und blickte auf die Uhr. Bis zum geplanten Treffen mit Simon blieben noch zwei Stunden. Ich überlegte mir, meinen Aufenthalt hier ganz einfach als Urlaub zu betrachten, ganz gleich, ob ich Simon nun treffen würde oder nicht. Und noch im selben Augenblick öffnete ich den Koffer, nahm die Kleider wieder heraus und räumte sie zurück in den Schrank. Dann setzte ich mich an den Tisch. Ich griff nach der Tasche, entnahm ihr das Bündel und legte es wieder auf die Tischplatte. Diesmal war ich mir sicher: Noch heute Nacht würde ich mit der Lektüre des zweiten Hefts beginnen und womöglich mehr als nur dieses lesen.

      Ich war nun bereits involviert, mochten also die Ereignisse ihren Lauf nehmen!

      4

      ZWEITES HEFT

       Anfang

      IHREN ERSTEN AUFTRITT hatte Soad bereits lange vor der Revolution, zu einer Zeit, als auf dem ägyptischen Thron noch ein junger König saß. Sie war damals gerade fünf Jahre alt und auf Fürsprache ihres Schwagers, der als Musikinspizient im Bildungsministerium arbeitete, in den dortigen Kinderchor aufgenommen worden. Der Chor trat hin und wieder einmal im Rundfunk auf, war aber ansonsten nicht weiter bemerkenswert. Eines sonnigen Frühlingstages allerdings erklärte der Chorleiter, Onkel Bascharu, den Kindern, sie würden zum Schamm-al-Nasim-Fest ein paar Lieder beitragen, und zwar nicht wie in den vergangenen Jahren im El-Horryia-Park auf der Nilinsel, sondern in den königlichen Gärten. »In Anwesenheit des Königs samt seiner Familie und all seiner Gäste«, betonte er und verlangte, dass jeder von ihnen, Junge wie Mädchen, als Geschenk für den König ein Lied einstudieren sollte.

      Als Soad am nächsten Tag vors Mikrofon trat und ihr Lied anstimmte, ein Lied, dessen Zeilen – Soad bin ich, Schwester des Mondes / für meine Schönheit allseits bekannt / nur einen Zoll groß, von Angesicht klar wie der Vollmond / mein Gesang betört einen jeden … – sie ihr Leben lang nicht vergessen sollte, da konnte niemand unter den Anwesenden sein Erstaunen verhehlen, und zwar nicht allein über die angenehme und kräftige Stimme des Mädchens, das tatsächlich nur einen Zoll groß war, aber dafür außerordentlich hübsch, sondern auch aus Respekt vor dem Selbstvertrauen dieser Kleinen, die noch nicht einmal zur Schule ging. Der Erste unter allen Bewunderern allerdings war der König selbst. Weswegen sich auch der Chorleiter Onkel Bascharu, der sich ziemlich