Rex Schulz

Im Jahr des Wolfes


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können, und allein das zählte!

      Sie nahm den Umhang ab und hängte ihn zum Trocknen über eine Stuhllehne. Dann ging sie hinüber zum Herdfeuer, goss Wasser in den Kupferkessel und hängte ihn über die noch glimmenden Scheite. Swanhild griff sich zwei Stück Holz und legte sie auf die Glut. Sie bückte sich und pustete kräftig in das schwelende Feuer. Sofort leckten Flammen hervor und begannen sich in das Holz zu fressen.

      Sie trat an das Regal und entnahm hier und da ein paar trockene Blätter und Blüten. Die gab sie in die Kanne und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen anfing. Währenddessen band sie sich ihr Haar im Nacken zusammen und schlüpfte in ihre dicken Haussocken.

      Endlich warf das Wasser im Kessel Blasen. Swanhild nahm ihn vom Feuer und goss die Teekanne voll. Sie stellte den Kessel auf den Herd, holte sich eine Tasse und ihre Zuckerdose und stellte alles auf den Tisch zur Teekanne. Dann ließ sie sich erschöpft auf den Stuhl fallen, tat etwas Zucker in ihre Tasse und frischgebrühten Tee. Sie nahm die Tasse an die Lippen, blies hinein und nahm einen kleinen Schluck. Sofort durchflutete Wärme ihren Körper. Swanhild trank noch etwas mehr vom Tee.

       Wie lange ist es eigentlich her, dass ich hier mit Fenja Rabenherz gesessen habe?

      Ihre Mentorin war vor einem Sommer zu den Göttern gegangen, und seitdem war sie, Swanhild Rabenfeder, die heilkundige Kräuterfrau des Rabenclans. Schon als junges Mädchen war sie zu Fenja gekommen und hatte sich deren Wissen aneignen dürfen. Es hatte vieler Jahre bedurft, bis sie sich mit jedem Kraut, jeder Wurzel und jedem Pilz auskannte und deren Wirkung im Schlaf herunterbeten konnte. Dazu kamen noch die Heilsteine, auch hier dauerte es Jahre, bis Swanhild deren Wirken kannte.

      Jeden Abend hatten sie gemeinsam hier an diesem Tisch gesessen und zusammen Tee getrunken.

      Wehmütig seufzte Swanhild und nahm noch einen Schluck von dem heißen Gebräu.

      Langsam sollte ich mich wohl auch mal nach einer geeigneten Schülerin umsehen! Ich werde schließlich auch nicht jünger!, bei diesem Gedanken lächelte sie leise vor sich hin.

       THURISAZ – Dorn (Rune des Gottes Thor, Schutz-Rune)

       Kapitel 4

Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
Neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem man nicht anseh’n kann
Aus welcher Wurzel er spross.
Sie boten mir nicht Brot noch Met;
Da neigt’ ich mich nieder
Aus Runen sinnend, lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.

      (DIE EDDA, ODINS RUNENLIED)

      Knisternd und mit hellem Schein loderte das Feuer im Kamin. Still war es im Raum und wohlig warm. Kerzen tauchten das Zimmer in ein heimeliges Licht. Riesige Regale, gefüllt mit alten und uralten Büchern und Folianten, die sämtliche Wände bedeckten, strömten eine geheimnisvolle Atmosphäre aus.

      Zwei Adepten saßen auf dem Boden, der mit dicken Fellen ausgelegt war, vor ihrem Meister, der auf dem Lehnstuhl neben dem Feuer thronte. Er beobachtete Hasso Hirschhorn und Steinar Rabenfeder, die in die Lektüre eines vor ihnen liegenden Wälzers vertieft schienen, mit Argusaugen.

      Weißbart Rabenzahn, Druide der Sueben, unterwies Hasso und Steinar, die, wenn man seiner Aussage glauben wollte, dumm wie Bohnenstroh waren und eine Last auf seinen alten Schultern, in der Kunst der Magie. Nun, vielleicht reden alle Meister so über ihre Lehrjungen. Aber in beiden musste doch ein wacher Verstand stecken, denn Rabenzahn nahm nicht jeden als Lehrbursche.

      Der Meister war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und hellseherisch begnadet. Er wusste um die Kraft der Runen und deren Zauber, und war Meister des Orakels. In punkto germanischer Mythologie konnte ihm kaum einer was vormachen. Jede Göttin, jeden Gott kannte er quasi mit Vornamen, sämtliche Fabelwesen waren ihm so vertraut wie der Kram in seiner Hosentasche.

      Als Berater des Königs fehlte er zudem bei keinem Thing!

      „Beim Schweif des Sleipnir! Hirschhorn, du sollst lesen, nicht schlafen!“, schalt er den Kleineren.

      Der so Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen und grub seine Augen tief in das Buch auf seinem Schoß.

      „Meinst du, ihr sollt das aus Spaß lesen? Oder weil heute Märchenstunde ist? Mitnichten! Frau Holle muss jeder Druide kennen! Das ist reinste germanische Geschichte und Mythologie, nicht wahr, Rabenfeder?“

      „Ja, Meister!“, antwortete Steinar brav.

      Weißbart Rabenzahn blickte ihn streng an.

      „So, so, dann erzähle mir doch mal, was deiner Meinung nach daran so mystisch ist!“

      „Ja, Meister! Ja … also … als das fleißige Mädchen in den Brunnen gefallen war, um seine Spindel herauszufischen, erwachte es auf einer Blumenwiese. Diese nennt man groni godes wang – grüne Gotteswiese.“

      „Richtig, Rabenfeder! Hirschhorn, hör gut zu, hier kannst du was lernen!“

      Steinar fuhr fort: „Auf dieser Wiese beginnt der Helweg, der Weg in das Totenreich Hel. Deshalb setzen wir unsere Toten mit gutem Schuhwerk bei, damit sie den langen staubigen Weg ohne Mühe gehen können.“

      Meister Rabenzahn unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste und wandte sich Hasso zu:

      „Du machst weiter!“

      „Ja, Meister!“ stammelte der, „mh … dann kam das Mädchen zur Kuh. Und hat die gemolken!“

      Stolz schaute Hasso zu seinem Meister.

      „Hasso, du trottliges Produkt besoffener Eisriesen! Was für eine Kuh denn?“

      „Äh … Audhumbla, die Urkuh, die Ymir nährte!“

      „Geht doch, Hirschhorn! Mach weiter, Rabenfeder!“

      „Dann kam das Mädchen an einen Backofen. Da lag ein Brot drin und wollte raus, weil es sonst verbrennt. Das Mädchen nahm die Backschaufel und zog das Brot aus dem Ofen.“

      Rabenzahn nickte und sprach: „Merkt an, Schüler! Sieht ein Brot nicht aus wie ein frischgewickeltes Neugeborenes? In alten Zeiten und bis heute glaubt man, dass die Ahnen Gebärenden beistehen, und das Mädchen war ja tot und in der Unterwelt! Hasso!“

      „Ja! Als das Mädchen den Helweg weiterging, kam es an einen Apfelbaum, der geschüttelt werden wollte, was sie auch tat.“

      „Gut. Äpfel waren und sind eine wichtige Vitaminquelle in der Zeit des Winters! Rabenfeder, du bist wieder dran!“

      „Das Mädchen kam zu Frau Holle, die war gar schrecklich anzusehen, sodass es sich fürchtete. Aber die alte Frau gab sich freundlich und nahm es bei sich auf. So sah das Mädchen sie mit anderen Augen, denn Frau Holle war nicht nur eine Erdgöttin, sondern auch die Göttin der Schönheit und Liebe.“

      „Sehr gut, Steinar!

      Meister Weißbart war zufrieden mit seinen Schülern, sie schienen endlich Feuer und Flamme und in der Geschichte aufzugehen.