Rex Schulz

Im Jahr des Wolfes


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auf der Erde. Wenn sie für Frau Holle das Essen kochte, stieg der Dampf als Nebelschwaden aus den Schluchten auf. Ein Tag bei Frau Holle war auf der Erde ein ganzes Jahr. Dem Mädchen gefiel es sehr gut bei Frau Holle!“

      Ein kurzer Blick zu Steinar.

      „Aber dann wurde das Mädchen traurig, es hatte Heimweh. Das sagte es Frau Holle! Die freute sich, dass das Mädchen so ehrlich war, und übergab ihm die verlorene Spindel. Sie führte das Mädchen zu einem großen Tor. Als Dank für seine guten Dienste ließ Frau Holle Gold auf das Mädchen regnen. Das Mädchen kam zurück auf die Erde und ward wiedergeboren!“

      Rabenzahn klatschte in die Hände. Er strahlte über das ganze Gesicht.

      „Prima, Jungs! Hab ich euch am Ende doch noch etwas beigebracht! Ihr habt mich sehr glücklich gemacht. – Somit können wir uns also der Runenkunde zuwenden!“

      Die Knaben grinsten sich an und stießen ihre Fäuste gegeneinander.

      „Werdet mal nicht übermütig! Ab mit euch auf eure Kammer, morgen wird ein langer Tag. Euer König hat zum Thing gerufen, wir werden dabei sein!“

      „Jawohl, Meister! Gute Nacht, Meister!“, riefen die Lehrlinge wie aus einem Mund und stiegen die Treppe zu ihrer Kammer empor.

      Meister Rabenzahn blickte zufrieden in das Feuer, schließlich stand er auf und blies die Kerzen aus. Auch er brauchte seinen Schlaf!

      * * *

      Heute war der Tag. Die Zeit der Reinigung war endlich vorbei, nun würden sie damit beginnen, seinen Körper wieder aufzubauen.

      Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich, grelles Licht durchflutete den Raum und stach ihm schmerzhaft in die an die Schwärze gewöhnten Augen. Er kniff seine Lider fest zusammen. So sah er nicht, wie mehrere Schwarzkutten eintraten. Als sie seinen ausgezehrten Leib auf eine Schwebetrage betteten, stöhnte er vor Schmerzen auf.

      „Alles wird gut, Bruder!“, spendete einer der Männer ihm Trost.

      Vorsichtig öffnete er die Augen einen winzigen Spalt und sah sich um. Sie leiteten ihn über einen schmalen Gang. An der Decke waren in regelmäßigen Abständen Lichtröhren angebracht, links und rechts zweigten Türen ab.

      Plötzlich blieben die Kuttenträger vor einer Tür stehen. Der erste von ihnen öffnete sie, die Bahre schwebte in einen riesigen Raum.

      Riesige gläserne Behälter standen in dieser Halle, in ihnen schwamm eine trübe Flüssigkeit.

      Ein alter Mann trat an ihn heran und blickte ihm tief in die Augen.

      „Sei mir gegrüßt, Bruder! Deine Zeit ist gekommen, wir werden eine Waffe des einzig wahren Gottes aus dir schmieden. So, wie es dein Wille war! Während du hier in einem der Behälter aufgebaut wirst, sorgen wir für dich. Schließlich wirst du stark sein und mächtiger als je zuvor, und niemand wird dich aufhalten können! Halte durch, Bruder, die Rache wird unser sein!“

      „Tod und Verderben den Ungläubigen!“, presste er mühsam hervor.

      „Tod und Verderben den Ungläubigen!“, wiederholte der alte Priester, wandte sich ab und gab den anderen ein Zeichen.

      Einige Weißkittel traten heran. Einer hielt eine Atemmaske in der Hand.

      „Sie wird dich mit Luft versorgen!“, sagte er, streifte ihm das Teil über das Gesicht und fixierte es am Kopf. Jemand anderes befestigte Schläuche an ihm. Sein geschundener Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen, ein lebendiges Skelett. Die Haut war bleich und wundgelegen.

      Den Einschnitt in der Bauchdecke spürte er kaum, und auch den Schlauch, der in seinen Magen eingeführt wurde, nahm er nicht wahr. Der würde ihn mit Nahrung versorgen. Und mit Anderem, worüber er aber noch nichts wusste.

      Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, fuhren die Männer ihn an den nächsten Behälter heran, hoben seinen Leib von der Trage und ließen ihn langsam in die warme Flüssigkeit gleiten.

      Die Wärme beseelte seinen Körper, er trieb träge durch diesen Sirup. Jetzt wird alles gut werden, alles!

      Die monatelange Qual der Reinigung hatte sich gelohnt, er würde als Krieger Gottes aus diesem Gefäß steigen, wie Phönix aus seiner Asche!

       ANSUZ – Ase / Gott (Rune Odins; Rune der Inspiration)

       Kapitel 5

      Recht dem, dem Recht gebührt! Bis zum Beweis seiner Schuld

      ist jeder als unschuldig zu betrachten. Möge die Weisheit Odins

      über den Richter kommen und ihn ein gerechtes Urteil fällen lassen!

      Ist einer unschuldig, verlässt er das Thing als freier Mann.

      Wird sein Verbrechen bewiesen, fällt er den Wölfen Wotans anheim!

      (CHARTA GERMANIA)

      Milde Novembersonne tauchte die Lichtung in ein helles kühles Licht. Letzte Nacht hatte es den ersten Frost gegeben, und immer noch war die Luft klar und kalt, obwohl schon fast die Mittagszeit erreicht war. Das Gras auf der Lichtung war noch mit Resten von Raureif überzogen.

      Majestätisch erhob sich eine riesige Eiche in der Mitte und breitete ihre Äste schützend über dem Podest zu ihren Füßen aus. Darauf stand ein hoher Lehnstuhl, der den provisorischen Thron für Swidger Rabenfeder bildete. Auf den Bänken zu seinen Seiten saßen Swanhild Rabenfeder, die Kräuterfrau des Rabenclans, und Weißbart Rabenzahn. Dessen Lehrlinge hockten vor ihm.

      König, Zauberer und Hexe bildeten die Oberhäupter beim Thing, so war es gut, und so würde es bleiben, bis die Zeit der Götterdämmerung gekommen war, die Riesen gegen Asgard zogen, und die Welt neu erschaffen wurde.

      Die Lichtung war voll von Menschen, die gespannt zur Eiche blickten und auf das erste Wort des Königs warteten.

      Alle waren der Einladung gefolgt. Jede Sippe hatte ihre Vertreter geschickt – Raben, Drachen, Wölfe, Hirsche, Schlangen und so weiter und so weiter. Auch viele Bewerber, die in der Nähe wohnten, hatten sich eingefunden, und Mägde und freie Knechte.

      Dicht an dicht standen sie und es floss ihnen in der Mittagskühle der Atem in Wölkchen von den Lippen.

      Etwas abseits stand ein schwerer Panzer der Wölfe Wotans. Schwarz und unheildrohend schien das bewaffnete Ungetüm die Lichtung zu dominieren. Nur sein Hoheitszeichen, zwei goldene Wunjo-Runen, die sich in einem goldenen Rechteck kreuzen, milderten ein wenig diesen Eindruck. Drei Wölfe standen vor dem Fahrzeug. In schwarzer Uniform, Sturmhaube, Helm und Handschuhe bedeckten sie vollständig, sodass nur ihre Augen zu erkennen waren. Sie waren mit Kombiwaffe und Sax ausgerüstet.

      Der Anblick konnte einem schon einen kalten Schauer über den Rücken jagen, aber wer sich bedroht fühlte, hatte wohl etwas zu verbergen. Denn diese Männer in Schwarz beschützten die Menschen in diesem Land und gaben lieber ihr Leben her, als einem Germanen nicht beizuspringen!

      Jetzt erhob sich Swidger Rabenfeder von seinem Platz, sofort verstummte auch das letzte Gemurmel.

      „Bürgerinnen und Bürger! Freie Germaninnen und Germanen! Bewerberinnen und Bewerber!

      Ich, Swidger Rabenfeder, gewählter König der Sueben, grüße euch alle!

      Wir haben uns heute hier an Odins Eiche versammelt, um ein Thing abzuhalten. Ich rufe Tyr, den Beschützer des Thing, um seinen Beistand an. Und verkünde hiermit den Thingfrieden. Es gibt zwei wichtige Dinge, die wir heute zusammen entscheiden müssen.

      Doch bevor wir beginnen, bitte ich dich, Meister Weißbart Rabenzahn, wirf die Runen, um zu sehen, wie die Götter zu unserer Versammlung stehen!“

      Rabenfeder nahm auf seinem Stuhl Platz und Meister Rabenzahn ließ sich von Steinar den Beutel mit den Runen reichen.