begann zu zittern. Jetzt war es vorbei. Er würde die Residenz verlassen müssen und wäre für immer von der Liebe seines Lebens getrennt.
»Es tut mir so leid! Ich hatte mich nicht unter Kontrolle und wollte Pfleger Duncan nicht wehtun, aber …« Es fehlten ihm die Worte, um seinen Angriff auf den Pfleger zu erklären.
»Das ist sehr, sehr schade, Aristophanes.« Doktor Lazarus sah ihn ermahnend über den Rand seiner Brille an. »Ich habe mit Mister Mackay über Sie gesprochen.« Aristophanes glaubte, sein Herz würde zu schlagen aufhören, Angus Mackay war der Manager der Residenz, derjenige, der am Ende darüber entschied, ob jemand ging oder blieb. Aristophanes zitterte.
»Wir sind übereingekommen, Sie weiter in der Residenz zu belassen. Wir sollten allerdings an Ihrer Impulskontrolle arbeiten.« Doktor Lazaraus musterte Aristophanes, suchte nach sichtbaren Reaktionen, aber der Alte zeigte kaum etwas von seinem Inneren, außer, dass er sich sehr stark auf die Unterlippe biss.
»Gut«, sagte er nach einer Weile und Doktor Lazarus nickte. Da der Arzt schwieg, erhob sich Aristophanes seufzend.
»Eines noch«, sagte Doktor Lazarus und suchte Blickkontakt zu dem Mann. Erst als dieser hergestellt war, sprach er weiter. »Sie wissen, wer Kassandra ist?« Aristophanes schüttelte den Kopf und Doktor Lazarus schien leicht enttäuscht darüber zu sein. »Auch sie hat wie Sie einen Namen gewählt, der ihr … Leiden am besten beschreibt. Kassandra war eine griechische Seherin, die von dem Gott Apollon mit der Gabe der Prophezeiung in der Hoffnung beschenkt wurde, sie würde seinem Werben um sie nachgeben. Sie wies ihn ab, und der Gott bestrafte sie mit dem sagen wir Fluch dazu, dass ihr niemand Glauben schenken würde. Sie ist damals zu uns gekommen, weil sie sich von ihrer Krankheit, denn so nenne ich das als Arzt, erholen wollte. Sie meidet daher den Kontakt zu anderen, weil sie nicht um deren Schicksal wissen will.« Er nickte Aristophanes zu und glaubte, der Alte würde seinen Rat richtig einordnen können. Aristophanes ging ohne eine Antwort auf sein Zimmer.
Er begann ihr Briefe zu schreiben und legte sie vor ihrer Tür ab. Sie antwortete nicht. Über Jahre hinweg. Und dennoch blieb er, denn er war Aristophanes: ein von seiner anderen Hälfte getrennter Kugelmensch.
Er wurde zum Archivar der Residenz, grau, unauffällig, immer etwas melancholisch und vor allem … verliebt. Er stellte fest, dass in der Residenz die Uhren für manche von ihnen anders liefen. Er wurde älter, Kassandra hingegen sah aus wie an dem ersten Tag ihrer Begegnung. Und auch Doktor Lazarus schien gleichbleibend alt zu sein, nur das Pflegepersonal alterte mit ihm.
Es war im Herbst, als er die Tür öffnete und keine Luft mehr bekam, weil vor der Tür ein Briefumschlag lag. Ein cremiges Zitronengelb. Er sah auf den Korridor, begann nach geraumer Zeit wieder zu atmen, nahm den Brief an sich und drückte ihn an seine Brust. Drei Tage lang konnte er ihn nicht öffnen. Aus Angst vor einer Zurückweisung, aus Angst vor verletzenden Worten, die die Liebe mit sich bringen konnte, wenn sie nicht erwidert wurde.
Aber der Brief war für ihn eine Offenbarung, entsprach doch so, wie sie schrieb, allem, warum er sie liebte. Sie schrieb so, wie man im Regen tanzte, gänzlich unbefangen. Und obwohl sie in diesem Martyrium lebte, hatte sie sich eben diese bis in diesen einen Antwortbrief bewahrt. Sie scherzte mit ihm, schrieb ihm auf Augenhöhe. In dieser Nacht noch antwortete er ihr und so entstand eine Romanze auf Papier, die ihn vollständig erfüllte. Seine Zerrissenheit heilte, seine Laune besserte sich.
»Haben wir beschlossen, Mister Mackay und ich, dass Sie leider die Residenz verlassen müssen. Ihre Geldmittel sind aufgebraucht und wir haben eine Einladung ihrer Großnichte, die Sie gerne aufnehmen möchte. Wir werden Sie vermissen. Versuchen Sie den Sommer zu genießen!«
»Eines noch«, sagte der Arzt. »Anfälle, die jetzt aufgrund der Krise eines Abschieds entstehen, haben keinen Einfluss auf unsere Entscheidung.« Doktor Lazarus nickt ihm ernst zu und er verstand. Aristophanes ging ohne eine Antwort auf sein Zimmer.
Zwei Stunden, bevor er von einem Taxi abgeholt werden sollte, öffnete er die Tür und sah … Füße. Wieder setzte sein Herzschlag aus, er traute sich kaum, den Blick zu heben.
»Kassandra?«, flüsterte er, ohne sie gesehen zu haben. Ein rapsgelber Rock. Das musste sie sein. Sie hob sein Kinn an, sodass sich ihre Blicke trafen. Sie weinte still, ihre Lippen bebten. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn … auf seine Lippen. Küsste ihn.
»Kassandra! Ich kann bleiben! Ich kann dich mitnehmen! Wir können zusammen …« Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn noch einmal. Lang. Wie ein Leben lang, wie die Entstehung von Ozeanen, wie eine Welterschaffung.
»Geh!«, flüsterte sie. »Bitte, geh!« Halbherzig sagte er zu. »Versprich es mir bei deiner Liebe, die du für mich empfindest. Ich sehe sie.« Er zögerte. Weitere Tränen. Er versprach es.
Er atmete tief durch und wählte dann die Nummer der Residenz.
»Lazarus hier, guten Tag«, meldete sich der Doktor.
»Doktor Lazarus. Ich bin es. Argyle, ich meine Aristophanes.«
»Ah, hallo, Aristophanes, wie geht es Ihnen?«
»Gut. Ich lebe noch. Und damit wollte ich Ihnen mitteilen, dass Kassandra sich … irrt. Ich wollte fragen, ob Sie es ihr mitteilen können? Sie hat mich nämlich … verabschiedet, wie sie Paul damals verabschiedet hat. Und Ian. Und Misses Summersby. Die alle danach ums Leben gekommen sind. Und mich hat sie auch … geküsst. Und jetzt telefonieren wir nach über einem halben Jahr. Es könnte vielleicht …«
»Ich kann es ihr nicht ausrichten, Aristophanes«, unterbrach ihn Doktor Lazarus und er wurde wütend auf den Arzt und seine ewigen Zurückweisungen.
»Sie können ihr doch …«
»Nein, kann ich nicht. Sie ist kurz nach Ihrer Abreise auf tragische Weise die Steilküste hinuntergestürzt. Conner Mackay, der Wirt der Drunken Mermaid fand sie bei einem Spaziergang. Sie muss im Dunkeln den Halt verloren haben«, sagte Doktor Lazarus. Er log. Und das nicht besonders gut. Aristophanes legte den Hörer zurück in die Gabel, ohne sich zu verabschieden. Er würde auf ewig ein halber Mensch bleiben und ewig in seine gelbe Königin verliebt sein. So viel stand fest.
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