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DIE RESIDENZ IN DEN HIGHLANDS


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      Was soll ich davon halten? Frankys Satz war am Abend der Abschluss einer hässlichen Szene im Aufenthaltsraum. Ich war noch draußen, als ich das Geschrei hörte. Franky und Elodie. Franky klang verzweifelt, Elodie wie ein kreischender Dämon. »Schau! Schau hinein«, schrie sie. Als ich den Raum betrat, sah ich folgende Szenerie. Franky saß auf einem Stuhl an einem Tisch und bedeckte seine Augen mit beiden Händen. Elodie stand vor ihm und hielt ihm einen Handspiegel vors Gesicht. »Du belügst dich. DU BELÜGST DICH!«, schrie sie ihn an. »DU BIST EIN IDIOT.«

      Alle anderen im Raum schwiegen, während die Schwestern Lavinia und Moira versuchten, Elodie von Franky wegzuzerren. Aber Elodie entwand sich ihrem Griff, warf den Handspiegel auf den Tisch, drehte sich um hundertachtzig Grad und stapfte wutschnaubend aus dem Raum. Ich eilte zu Franky, dessen massiger Körper heftig zitterte. Nie habe ich ein derart verzweifeltes Wesen gesehen. Ich fand es abscheulich, was Elodie ihm angetan hat. Aber er nahm sie in Schutz. »Sie meint es nicht so«, sagte er. »Und eigentlich hat sie recht. Ich bin keine Elfe. Ich war nie eine, werde nie eine sein.«

      Vielleicht war dem so. Vielleicht ist die Sache mit der Elfe wie eine Krücke, auf der Franky durch sein Leben stapft. Aber darf man jemandem eine Krücke entreißen, wenn man ihn nicht zugleich lehrt, ohne sie zu laufen? Und überhaupt: Ist nicht vielleicht doch jeder eine Elfe, der Elfe sein möchte? Ich war wütend auf Elodie. Aber ich mochte sie auch. Immer noch. Ganz am Ende sagte Franky diesen Satz, dass bald jemand sterben wird. Soll ich das ernst nehmen? Das ist doch Unfug. Oder?

      Heute sah ich das Fräulein

      Heute Morgen traf ich Franky wieder. Franky, die Elfe. Elodie hat sein Selbstverständnis nicht nachhaltig beschädigt. Ist das gut? Ich weiß es nicht. Mir geht Frankys Satz, dass bald jemand sterben wird, nicht mehr aus dem Schädel. Etwas hat sich verändert in der Residenz. Viele Bewohner fürchten sich, weil sie an Elodies Vorahnung glauben. Wer wird sterben? Niemand weiß es. Niemand mutmaßt. Auch ich bin nervös.

      Am frühen Mittag begegnete ich im Flur erneut dem Holzfräulein. Ehe sie ihre Frage stellen konnte, rief ich: »Ja. Ich sehe dich!« Die Wirkung war bemerkenswert. »Oh«, sagte sie überrascht und errötete, »Wirklich?«

      »Rede ich Chinesisch, oder was? ICH SEHE DICH!«, erwiderte ich.

      »Oh«, wiederholte das Holzfräulein, lächelte verträumt und zog zufrieden von dannen. Erstaunlich, was Worte manchmal bewirken.

      »Das hat ihr gut getan«, sagte der Hausmeister, der die Szene beobachtet hatte. »Du bist ein feiner Kerl. Manchmal. Vielleicht nicht sehr charmant. Aber trotzdem …«

      Ein feiner Kerl. Nicht sehr charmant. Als ob ein Butzemann charmant sein müsste.

      Der schrecklichste Tag meines Lebens

      Man hätte meinen können, Elodies Schreie seien mir nach der Szene im Aufenthaltsraum vertraut gewesen. Aber dem war nicht so, nicht einmal annähernd. Der Schrei einer Todesfee ist schrecklich. Brutal. Vernichtend. Er übertrifft alles, was ich zuvor gehört habe. Der Kopf vibriert. Tausende Nadeln stechen ins Hirn. Man möchte sterben.

      Es war später Morgen. Ich stand in der Empfangshalle, bereit für meine tägliche Wanderung. Da begann ihr Schreien. Ich sah, wie Elodie die Treppe hinunterhetzte, Stufen übersprang und fast stürzte. Sie erreichte den Fuß der Treppe, verfolgt von zwei Schwestern, von Pfleger Mackay und vom Hausmeister. Elodie hastete zum Ausgang, stieß dabei mit mir zusammen und fiel – ohne jede Eleganz – auf den Boden, wo der Hausmeister und eine Schwester sie festhielten.

      Elodie wehrte sich heftig. Ihr Schreien verwandelte sich in Lachen, gemischt mit Kreischen und undefinierbaren Lauten. »Ein Vollpfosten! Ausgerechnet ein Vollpfosten hält einen auf«, schrie sie, lachte und lachte, schaute mich an und lachte immer weiter, bis sie in Ohnmacht fiel. »Vollpfosten.« Ich hätte beleidigt sein müssen, aber ich war es nicht. »Was weißt du schon von Schmerz?« Gerade jetzt erinnerte ich mich an unser Gespräch. Wahrscheinlich wusste ich nichts. Gar nichts. Elodie tat mir leid, als sie am Boden lag. Zugleich hatte ich Angst. Der Einzige war ich nicht. Das unerträgliche Schreien der Todesfee. Irgendwer wird sterben. Jetzt glaubte auch ich es.

      Jemand starb

      Das Holzfräulein ist tot. Ausgerechnet sie. Schwester Moira fand sie mittags in ihrem Zimmer. Das kleine Herz schlug nicht mehr. Vielleicht überforderte das Leben irgendwann so ein kleines Herz. »Sie lag auf ihrem Bett und lächelte«, erzählte man mir. Glücklich habe sie ausgesehen. Ich denke gerade an jenen Tag, an dem ich sie tanzen sah. Sie war ein liebes Geschöpf, manchmal anstrengend, bisweilen unglücklich, aber oft zufrieden, sichtbar auf dieser Welt zu sein, als Geschöpf unter Geschöpfen. Ich bin froh, ihr noch rechtzeitig gesagt zu haben, dass ich sie sehe.

      Ich glaube, man kann einiges lernen von einem Holzfräulein, selbst ich alter Butzemann. Auch ein Monsterleben, das das der Menschen überdauert, ist schnell vorbei. Man sollte es mit schönen Momenten sprenkeln, den bestmöglichen ihrer Art. Man sollte versuchen, das Leben zu durchtanzen, selbst bei Regen, wir alle hier, selbst der alte Butzemann, der das hier gerade schreibt.

      Am Ende wartet immer der Tod

      Ein wolkenloser blauer Himmel. Der Himmel weint nicht, wenn jemand stirbt. Vielleicht weinen Hinterbliebene. Den Himmel interessieren die Toten nicht. Er kleidet sich in graue Wolken oder in Blau. Er spendet Wärme, Regen, Schnee oder Eis. Wie jeden Tag. Ein einzelner Tod ist belanglos für die Welt. Das Meer nagt weiter am Felsen, als sei nichts geschehen. Der Mond zieht seine Bahnen. Zurück bleibt Erinnerung und auch sie wird mit jenen vergehen, die später sterben.

      Fast alle Einwohner der Residenz kamen, um das Holzfräulein zu beerdigen. Die Gemeinschaft der Unterschiedlichen nahm Abschied. Auch ich gehöre jetzt zu ihr. Elodie fehlte am Grab. Sie war zu schwach. Ich werde sie nachher besuchen. Ich mag sie und ich glaube, sie mag mich ebenso: den kleinen Herrn Butzemann, der einst Kinderschreck war. Und Clown. Was die Zukunft ergibt: Wer weiß das schon?

      Die Residenz ist für mich heute viel mehr als der Schuhkarton, den ich anfangs gesehen habe. Wir alle sind die Residenz: Franky (die Elfe), Elodie mit den roten Haaren und den blauen Strähnchen, Doktor Lazarus und der Manager, die Lady und selbst der alte Graf, der blutige Steaks liebt und nie mein bester Freund sein wird. Wir alle leben hier das Leben, das uns bleibt. Wir alle leben es gemeinsam. Und es ist gut so, wie es ist.

Holzfräulein

      Vincent Voss

      Halber Mensch

      Seine Königin in Gelb stand allein auf dem weit ins Land reichenden, englischen Rasen vor den blühenden Rhododendren, als es zu regnen begann. Sie klappte einen Schirm auf, der eigentlich als Schutz vor den Strahlen der heißen Junisonne dienen sollte, um jetzt ihr zitronengelbes Kleid und den gleichfarbigen Hut zu schützen, verweilte so einen Augenblick unter dem Schirm und verzog das Gesicht, was ihrem Antlitz in seinen Augen eher ein niedliches Schmollen, denn ein zorniges Grimmen verlieh, klappte den Schirm wieder zusammen und begann, im Regen zu tanzen. Sie breitete die Arme aus und hieß die dicken Tropfen auf ihrem Kleid und ihrem Körper willkommen.

      Er war dreiundachtzig Jahre und lag auf der Mauer auf der Lauer, wie man es so schön sagte, und beobachtete die Bewohner der Residenz, die in einiger Entfernung seines Dorfes hier oben an der Steilküste des Loch na Lerig stand. In seine Königin in Gelb verliebte er sich spätestens an diesem Tag hoffnungslos und für immer. Sie war der Sinn seines Lebens. So viel stand fest.

      Der Pub Drunken Mermaid zog an ihm vorbei, während die Kutsche sich die Anhöhe hinaufarbeitete. Das Holz ächzte, das Geschirr der Pferde klirrte, denn es war keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine, die es ihren Gästen auf der womöglich letzten Fahrt so angenehm wie eben möglich machte. Die Wände strahlten in rotem Samt mit goldenen Mustern, es gab ein Fach, in dem der Champagner gekühlt wurde und ein weiteres, das edle Gaumenfreuden enthielt. Es gab federleichte Daunendecken, die für Wärme sorgten, denn die alten Herrschaften froren schnell. Die Residenz verließen die meisten Bewohner im Sarg, daher sollte ihnen die Anreise wenigstens Freude bereiten. Und